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Ein starkes Stück

Seit Jahren zieht es Menschen zum Jedermann. Was sie sehen, ist mehr als Theater,
es ist ein Stück Hamburg.

Sie ist die „Neue“: Mit der Spielzeit 2012 übernimmt Jantje Billker im Hamburger Jedermann von Michael Batz (rechts) die Rolle der Geliebten, die dem Jedermann, dargestellt von Robin Brosch (links), den Kopf verdreht.

„Wir haben noch lange darüber gesprochen und noch länger dran gedacht … Tolle Aufführung, wir kommen auf jeden Fall wieder … Großartiges Stück, wunderbare Atmosphäre, ein unvergesslicher Abend … Danke auch ans Ensemble und das gesamte Team …“ Briefe und Mails dieser Art bekommt unser Produktionsbüro in der Speicherstadt mit der schönen Adresse Auf dem Sande 1 regelmäßig nach jeder Vorstellung, meist in beträchtlicher Zahl. Darüber freuen wir uns natürlich. Regelrecht verblüfft hat uns aber eine andere völlig überraschende Rückmeldung.Die erhielten wir im vergangenen Jahr, als wir rund um den Michel zehn Portalspiele zur Aufführung brachten und von einem Obdachlosen auf den Jedermann angesprochen wurden. Sein Freund sei dort bei dieser Bühne in der Speicherstadt gewesen und hätte anschließend davon berichtet und gesagt: „Das ist besser als jedes Theater.“

Wie gesagt, wir Theaterleute waren sehr verblüfft. Doch im nächsten Moment wurde uns klar, welches besondere Kompliment da gerade ausgesprochen worden war, nämlich das der größten Glaubwürdigkeit. Da war eine Erzählung ungeachtet des Kunstgenusses für jemanden, der die Härten des Lebens nur zu gut kannte, absolut überzeugend gewesen. Wir haben es dann allerdings unterlassen, den Satz quer auf unser Plakat zu setzen. Das beste Marketing ist und bleibt die Qualität. Ein Aspekt dieser Qualität liegt in der Konstanz. Die Tatsache, an ein und derselben Stelle nunmehr im 19. Jahr dieselbe Geschichte zu erzählen, während aus dem Hafen eine HafenCity, aus dem Zollgebiet ein Quartier geworden ist und an Stelle des Schweigens der Schuppen Dauerdurchsagen für Touristen zu hören sind, hat eine starke Anziehungskraft auf Besucher und Besucherinnen von Fern und Nah. Dabei sind wir an Patina gar nicht interessiert. Es ist einfach so, dass das Projekt mit seiner Geschichte von Haben und Sein mit der Zeit immer noch „wahrer” wird und mittlerweile mit der Speicherstadt so verbunden ist, als habe es schon immer dazugehört. Was natürlich nicht stimmt. Vielmehr hat es in kultureller Sukzession einen unwahrscheinlichen Ort der Abgeschiedenheit am Ende seiner eigentlichen Funktion radikal neu entdeckt. Wie überhaupt der Avantgarde-Begriff die tatsächliche Entdeckung meint, keineswegs die Entdeckung des bereits Entdeckten. „Man muss sich genau so etwas trauen”, schrieb zutreffend zur Premiere 1994 die Wiener Zeitung.

Der Teufel kurz vor seinem Triumph: Da hilft kein Flehen und kein Jammern, die Seele des Jedermann (Mitte) gehört dem Fürsten der Finsternis (rechts).

Sehr schön ist es immer, Leuten zuzuhören, die das Projekt über die Jahre auf ihre Weise begleitet haben, indem sie es immer mal wieder mit größeren Abständen besuchten. Meistens braucht es dafür Anlässe, denn die eigene Stadt erlebt man nicht im Wahrnehmungsmodus, sondern im Darstellungsmodus: Man zeigt sie Freunden und Bekannten. Und man geht zum Hamburger Jedermann, vergleicht Schauspieler und Aufführungen, Aktualisierungen und Details, die Veränderungen im Umfeld und natürlich das Wetter. Und die eigenen Lebensumstände. Vielleicht beim ersten Besuch noch Student, dann später verheiratet, beim dritten Mal sind schon Kinder da. Warum soll es dem Publikum anders gehen als unseren Schauspielern und Schauspielerinnen? In einer derart langen Zeit werden Lebensgeschichten geschrieben, in die eine oder andere Richtung, Menschen kommen zusammen, gehen auseinander, und ab und zu sitzen sie wieder auf einem Holzstuhl in der Speicherstadt und schauen auf die Fassade von Block E und die kleine Bühne im Format eines Kammerspiels und den Raum von vier Opernhäusern.

Vielleicht liegt die Stärke des Projekts auch darin, in letzter
Konsequenz nicht kommerziell zu sein.

Die Stühle, kann man sagen, sind uns ans Herz gewachsen. Es ist immer wieder ein anrührendes Bild, wenn aus einem Parkplatz ein Theater gemacht wird, und wenn wie aus dem Nichts Reihen von Klappstühlen einen Zuschauerraum beschreiben, ein unmittelbares Gemeinschaftserlebnis vorwegnehmend. Was haben wir nicht schon an Vorschlägen uns anhören müssen und Konzepten, bis hin zu Entwürfen großformatiger Tribünen, die sogar noch über das Dach des Kesselhauses gezogen werden sollten. Dann auch noch überdacht mit starren Konstruktionen oder Segelflächen, die Windlasten erzeugt hätten, ausreichend, das Kesselhaus abzuheben.
Nein, in der Schlichtheit, die die Besucher Jahr für Jahr empfängt, liegt das höchste Maß an Erfahrung, Praktikabilität und Übereinstimmung mit den eigenen Inhalten und Aussagen. Der höchste Luxus besteht darin, dass etwas ehrlich ist und es genauso präsentiert wird. Direkt, nah, von face to face, und dazu braucht es kein Facebook. Für leibliches Wohl ist ebenfalls gesorgt, von unserer hafenerprobten Gastronomie Soup City, die übrigens mit dem Fischrestaurant Catch of the Day im Maritimen Museum gerade einen echten Hit gelandet hat. Ein Besuch beim Hamburger Jedermann, und so meinen wir es selbst auch, ist kein Gang zu einer moralischen Veranstaltung, sondern eine Feier des Lebens an einem Ort der Werte und des Wandels der Werte. Und das bringt Menschen zusammen. Nur so lässt sich erklären, warum sehr berühmte Menschen neben sehr unbekannten, sehr reiche neben sehr armen, sehr junge neben sehr alten Menschen sitzen, alle auf den gleichen Stühlen, ohne Bevorzugung. Nicht wenige Zuschauer wären vermutlich überrascht, zu hören, wer gerade neben ihnen sitzt und ebenso fasziniert ist, wenn der Tod aus der Luke ruft und der Teufel sich ums Verrecken abmüht, bis ihm nichts mehr einfällt.

Der Hamburger Jedermann ist sich
treu geblieben und ist so jung, poetisch und wüst wie am Anfang.

Dieser Ort, zwischen Drinnen und Draußen, Wasser und Land, mit seinen gewaltigen Dimensionen und der riesigen Front, er hat immer noch etwas Unterschwelliges, Ungewisses, Unfassbares. Große Entscheidungen haben sich in ihm eingeschrieben, haben verwundet und wieder aufgebaut. Einst amphibisches Vorland der Stadt, dann Ansiedelung auf geschliffenen Wehrmauern und Bastionen, Heimat niederländischer Glaubensflüchtlinge, später wohnte Lessing hier und die Familie von Schopenhauer, wiederum radikal geschleift zur Errichtung der zollfreien Lager, zerbombt und wieder hergestellt, man spürt sie einfach, die Wucht der Geschichte. Schicksalhaft, dieses Wort wurde in der hitzigen Hamburger Debatte um den Beitritt zum Deutschen Zollverein reichlich verwendet.
Vielleicht liegt es einfach am Wasser. Eine Geschichte wie der Hamburger Jedermann kann eigentlich nur am Wasser spielen, dort, wo die Sandbrücke mit der Stadt verbindet und die Treppe des einstigen Anlegers hinabführt zur Tide. Wo bis hin zu St. Annen auf den Blechabdeckungen der Dalben kleine Münzen liegen, um Geschick und Glück miteinander zu verbinden. Manchmal braucht es dafür auch größere Münzen, aber es zahlt sich eben auch aus. Es ist der HHLA als Eigentümerin zu danken, dass sie Renovierung, Umnutzung und Entwicklung bedacht und behutsam vorantreibt. Wertpflege ist Ausdruck von Wertschätzung, und die definiert nicht allein der Markt. Auf keinen Fall der schnelle und rücksichtslose Markt.

Alle Jahre wieder: Das Ensemble des „Hamburger Jedermann“ kommt zu den Proben in der Hamburger Speicherstadt zusammen. Halt’ durch! Das Stück lebt nicht vom Durchhaltewillen, sondern vom Witz und Temperament seiner Macher. Trotzdem ist es harte Arbeit.

Eine Vorstellung des Hamburger Jedermann beginnt, wenn die Sonne hinter dem First von Block D versinkt. Sie beginnt bei Tageslicht und endet in der Dämmerung, an den letzten Wochenenden im August bereits im Dunkeln. Jede Vorstellung am fließenden Wasser des Fleets ist wie eine Reise durch Fragen, Haltungen, Konfrontationen, Irrtümer und Wendungen, also eine Reise durchs eigene Leben. Zwei Stunden Zeit vergehen, kaum, dass man es bemerkt, so viel passiert, auf der Bühne und drumherum, und am Ende ist etwas mitzunehmen, was im antiken Drama Katharsis genannt wurde, Reinigung. Und das sogar nach einem sehr unterhaltsamen Abend. Dieses Theater ist da, um Menschen zu erreichen, und es behält seine Kraft, solange Menschen zu ihm kommen und unbedingt sehen wollen, „wie die in Hamburg es machen“. Klug, poetisch und wüst, das passt zu Hamburg und seiner unsentimentalen Art. Genau das wird auch gesucht, wenn bis in die Schweiz, nach Österreich, Dänemark, Holland und darüber hinaus Reisende kommen und wissen wollen, was das Hamburgische an Hamburg ist. Und ihrerseits so manche Hamburger Bekannte in die Speicherstadt bewegen, denn die kennen es zwar alle, soll ja fabelhaft sein, waren aber noch nicht da, wollten es aber schon immer …
Ein Projekt, dass Baustellen, Fleetsperrungen, Autobahn-umleitungen, Strukturveränderungen und Sanierungen überlebt hat, ohne ästhetische Einbußen, kann nicht ohne Kraft sein. Das liegt auch am Ensemble, das jedes Jahr auf der Probebühne im vierten Boden bereits bei der ersten Leseprobe wieder jene Magie aufscheinen lässt, die dann auf der Bühne mit aller scheinbaren Leichtigkeit auch das Publikum erfasst. Dieses Ensemble ist gewachsen, dem Stück verfallen und der Tatsache, ein Mal im Jahr im bewegten Beruf heutiger Schauspieler einen festen Punkt zu haben. Es tritt wieder an die geöffnete Luke, schaut hinaus, sieht, was sich verändert hat, umarmt sich, lacht, geht auf die Bühne und spielt. Solche Ensemble gibt es kaum noch. Vielleicht liegt die Stärke des Projekts auch darin, bei aller Notwendigkeit der Wirtschaftlichkeit in letzter Konsequenz nicht kommerziell zu sein. In Zeiten der Durchvermarktung ist es sicher nicht zeitgemäß, auf alles zu verzichten, was nebenher noch einen Euro abwirft. Aber links und rechts ist vieles gewesen, was es nicht mehr gibt. Den Hamburger Jedermann gibt es noch, und er ist sich treu geblieben und ist so jung, poetisch und wüst, wie am Anfang, als das Hausmeisterehepaar Pein aus der damaligen Wohnung im ersten Stock des Kesselhauses hinunterschaute und meinte, es sei die schönste Zeit im Leben gewesen.

Vorstellungen: 13. Juli bis 26. August 2012, jeweils Fr, Sa und So
Kartentelefon: 040 . 369 62 37
www.hamburger-jedermann.de

Text: Michael Batz, Fotos: Thomas Hampel und Michael Batz
Quartier 18, Juni–August 2012 , Rubrik:    
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