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Die Chronik der Consorten

Der lange Weg der Speicherstadt vom modernen Lagerhauskomplex im Freihafen bis zum touristisch interpretierten Altstadtquartier

Ist die Speicherstadt ein „Meisterwerk menschlicher Schöpferkraft“? Versinnbildlicht sie einen bedeutenden Abschnitt der Geschichte der Menschheit? Darüber wird 2015 die UNESCO entscheiden, wenn sie über eine Aufnahme in die Liste des Weltkulturerbes berät. Unabhängig vom Urteil der UNESCO ist aber schon heute – 125 Jahre nach der offiziellen Einweihung der Speicherstadt durch Kaiser Wilhelm II. – unstrittig, dass sie eine Zäsur in der Geschichte Hamburgs versinnbildlicht. Denn der Beitritt der Hansestadt zum deutschen Zollgebiet, deren steingewordener Ausdruck sie gewissermaßen ist, war vermutlich noch bedeutender als der Bau des neuen Hafens auf dem Grasbrook, der ohne den Zollanschluss kaum dieselbe Tragweite gehabt hätte.

Der Bau der Speicherstadt ist eine Zäsur in der Geschichte Hamburgs

Nach zähen Verhandlungen mit dem Reich hatten die Stadtväter 1881 auf ihr jahrhundertealtes Privileg des zollfreien Handels verzichtet und sich mit einem Freihandelsbezirk begnügt, in dem Waren weiterhin zollfrei umgeschlagen, gelagert und verarbeitet werden konnten. Bis 1889 wurden mit den Blöcken A bis O etwa zwei Drittel der Speicherstadt fertiggestellt. Bis 1927 wurde sie dann in mehreren Schritten weiter ausgebaut, bevor sie im Zweiten Weltkrieg zu großen Teilen zerstört wurde. Doch obgleich sie später mit viel Umsicht neu bebaut wurde, verlor sie nach dem Krieg zusehends an Bedeutung, bis die Wirtschaftsbehörde in den 1980ern zu dem Ergebnis kam, sie sei nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben. Die Containerwirtschaft hatte zur Abwanderung des Hafens zu den großen Flächenterminals am südlichen Elbufer geführt. In der Folge wurden sehr unterschiedliche Überlegungen angestellt, wie sich das Areal sinnvoll umnutzen ließe. So überlegte man, den Sandtorhafen zu verfüllen und darauf Lagerhallen mit Gabelstaplerbetrieb zu errichten; Kehrwieder und Sandtorhöft wurden als Terminal der Englandfähre in Betracht gezogen. Besonders heftig diskutiert wurden Pläne, die Speicherstadt immobilienwirtschaftlich zu vermarkten, etwa für Wohnraum.

Als dann 1997 die Entscheidung für den Bau der HafenCity auf dem brach liegenden Hafenareal auf dem Großen Grasbrook fiel, wurde die Speicherstadt endgültig aus ihrer Randlage hinter dem Zollzaun in die Mitte der Stadt geholt. In ihrer neuen Funktion als Milieugeber und Scharnier zwischen City und HafenCity konnte sie sich nicht länger rein gewerblich oder industriell definieren. Stattdessen setzt das Immobiliensegment der HHLA heute schwerpunktmäßig auf eine Öffnung des Areals für Showrooms, Büros, Gastronomie, touristische Unterhaltung, Hotellerie und Wohnungen. Grenzen dafür setzt der Denkmalschutz, unter dem die Speicherstadt seit 1991 steht. Eine Aufnahme in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO würde diesen Rahmen weiter verengen, denn die neuen Nutzungen der Speicherblöcke sind nicht ohne teilweise massive bauliche Eingriffe möglich. Aber auch diese Veränderungen belegen das Selbstverständnis der Stadt und werden zur Entwicklung der Speicherstadt als einem lebendigen Bestandteil Hamburgs beitragen.

Text: Nikolai Antoniadis, Fotos: Michael Batz, Deutsches Zollmuseum (Gemälde Ludwig Dettmann), Richard Fischer, Hamburgisches Architekturarchiv, Thomas Hampel, Heinz-Joachim Hettchen, Strumper & Co., Gustav Werbeck / HHLA , Frank Zarges. Entnommen aus dem Buch 125 Jahre Speicherstadt, ELBE&FLUT Edition, 2013

125 Jahre Speicherstadt

Hamburgs faszinierendes Backsteindenkmal
von der Kaiserzeit bis heute

ELBE&FLUT Edition
Junius Verlag
Broschur
296 Seiten, ca. 300 Abbildungen
Deutsch
19,90 Euro
ISBN 978-3-88506-039-0

 

 

 

 

 

Quartier 24, Dezember 2013–Februar 2014 , Rubrik:    
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