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Die Weinschmeckerin

Das VLET ist in seinem fünften Jahr längst über die Grenzen der Speicherstadt hinaus bekannt und gilt als feste Größe in Hamburgs Restaurantatlas. Das liegt auch an Neele Grünberg. Sie ist nicht nur Restaurant-leiterin, sondern richtet ihre ganz besondere Aufmerksamkeit auf die Weinkarte
Neele Grünberg

Restaurantleiterin Neele Grünberg am Tresen vom VLET im Speicher N

Es kann der unangenehmste Moment im Restaurant werden. Beim ersten Date, beim Geschäftsabschluss, Familientreffen oder beim Essen mit dem Chef. Der Augenblick der Wahrheit. Der Wein steht nicht unter „Getränken“, sondern auf einer eigenen, gut sortierten Karte: Regionen, Trauben, Jahrgänge, Weingüter. Einige blättern durch die Seiten wie durch ein chinesisches Wörterbuch ohne Übersetzung und versuchen dabei, sich nichts anmerken zu lassen. Andere bluffen und wählen einen Wein, der schön klingt und unter 25 Euro kostet. Wer Glück hat, findet einen Wein, den er kennt. Die meisten sind überfordert. Forster Ungeheuer „Ziegler“, große Länge, sehr elegant. Refosco dal peduncolo. Paul Jaboulet Aîné Crozes Hermitage Les Jalets. Der einzige, der zwischen uns und einer großen Demütigung steht, ist der Sommelier (oder die Sommelière). Leider leidet der Beruf unter seinem Ruf. Denn während er eigentlich die Entscheidung erleichtern soll, unterstellt man ihm häufig, er versuche, uns Weine anzudrehen, die wir uns nicht leisten können aus Gründen, die wir nicht verstehen.

Diese Angst stammt noch aus der Zeit, als nur wenige gediegene Restaurants gesonderte Weinkarten hatten und noch weniger einen Sommelier, der sie erklärte. Man erinnert sich dunkel an hochnäsige Snobs, die die Weinbestellung zum Test für den Zivilisationsgrad ihrer Gäste machten. Heute gibt es vermutlich auch nicht viel mehr ausgebildete Sommeliers. Aber kein Restaurant, das etwas auf sich hält, hat nicht zumindest eine kleine Karte mit ausgewählten Weinen. Sogar Cafés oder kleine Mittagslokale in der Schanze, Ottensen oder Eppendorf haben häufig jemanden, der mit einigem Verstand über Wein spricht. Jemand, der Freude daran hat, Weine aus unerwarteten Gegenden und wenig bekannten Weingütern zu entdecken; der gerne Weine beschreibt und von den Winzern erzählt.

Neele Grünberg

Übung macht die Sommelière: Je mehr sie probiert, desto besser wird sie

Um herauszufinden, welcher Wein der richtige für diesen Gast ist, muss Grünberg halb Detektiv, halb Psychologe sein

„Ich liebe Wein, und dadurch lerne ich immer weiter dazu“, sagt Neele Grünberg. „Je mehr man probiert, um so besser wird man. Natürlich ist auch der persönliche Kontakt zu den Winzern sehr wichtig.“ Geboren in Buchholz in der Nordheide, hat sie ihre Lehre zur Hotelfachfrau im niedersächsischen Bendestorf gemacht, im Vier-Sterne-Hotel Landhaus Meinsbur. Nach Stationen im Schlosshotel Münchhausen und im Apples Restaurant des Hamburger Park Hyatt fing sie im Mai 2009, wenige Monate nach der Eröffnung, im VLET an. Als Spezialistin für Wein arbeitet sie an einer Weinkarte, die einzigartig ist und gleichzeitig mit dem Essen von Küchenchef Thomas Sampl korrespondiert.

„Für mich ist wichtig, dass ich mich ein bisschen in die Weinkarte einbringe und gleichzeitig food & beverage mit den Weinen zusammenbringe.“ ,Ein bisschen‘ ist ein bisschen untertrieben. Die Weinkarte trägt heute ihre Signatur und ist vor allem bekannt für die große Auswahl an deutschen Weinen, auch vielen seltenen und unbekannten. „Ich möchte deutsche Weißweine, und zwar nicht nur Riesling, sondern auch andere, überraschende Rebsorten, von denen man vielleicht vor fünf Jahren noch nicht gedacht hätte, dass man daraus gute Weine machen kann. Wie etwa aus Lemberger oder Trollinger. Als ich meine Lehre angefangen habe, war der halbtrocken und hat Kopfschmerzen gemacht.“ Den gibt es immer noch, aber inzwischen haben viele Winzer begonnen, Rebsorten wie Trollinger oder Lemberger zu intensivieren und auszubauen und sich darauf zu spezialisieren. „Ich habe zum Beispiel einen 2008er Lemberger aus Württemberg“, sagt sie. „Und es ist großartig, wenn man Gäste so überraschen kann.“

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Hochprozentiges im VLET

Als Grünberg im VLET anfing, führte die Karte im Wesentlichen nur einen Wein pro Gut. Sie hat mehr Weine von mehr Weingütern aufgenommen und das Sortiment stärker spezialisiert. Vor vier Jahren gab es sechs oder sieben deutsche Rotweine auf der Karte, heute sind es zwischen 20 und 25. Außerdem führt sie nun auch eine größere Anzahl älterer Jahrgänge. „Einen 1999er Riesling Spätlese trocken gibt es nicht überall.“ Es muss schon ein bisschen besonders sein. Wie der Digestif von Willi Peter, einer kleinen Destillerie in der Südpfalz, die kürzlich durch eine Empfehlung im Michelin geadelt wurde. Seit kurzem gibt es auch eigens fürs VLET abgefüllten Finkenwerder Herbstprinz Apfelbrand von der Feingeisterei auf Gut Basthorst im Alten Land. Natürlich führt das VLET auch große Betriebe wie die Weingüter Dr. Loosen, Künstler oder Bassermann-Jordan. „Aber ich überrasche gerne mit kleinen familiengeführten und unbekannten Betrieben“, sagt Grünberg.

Dieselbe Philosophie findet sich in der Speisekarte: Regionale Produkte, verschiedene Händler, Höfe und Manufakturen. Nordseekrabben zum Beispiel stammen von Alfred Urthel in Friedrichskroog, der dafür bürgt, dass seine Krabben auch bei ihm im Betrieb und nicht in Marokko gepult werden – und zwar mit einer eigens von ihm erfundenen Krabbenpulmaschine. Das VLET arbeitet mit Landwirten zusammen, die für die Küche historisches Gemüse anbauen: die weiße Mai-rübe, Ringelbete, grünen Blumenkohl. Früchte, die von der Industrie kaum noch oder gar nicht mehr produziert werden. Der Schwerpunkt der Küche liegt auf norddeutschen, gerne alten Gerichten. Ein bisschen Finesse darf natürlich auch dabei sein: Bokelholmer Apfel-Entenbrust mit eingemachten Feigen, Rotkohlglace, Semmelknödel, Süßholz und karamellisierten Walnüssen. Oder Schnüsch mal in Nudel, ein Ravioli mit Kohl- und Mohrrüben, dazu Schafsjoghurtjus, falsche Kiebitzeier (pochiertes Lachshuhnei) mit brauner Butter und Lauchasche. Wie man sieht, steht das Essen dem Wein in keiner Hinsicht nach.

Für das Menü setzt sich Grünberg mit Sampl zusammen. Er erklärt ihr die Komponenten der Gerichte, die Beilagen, die Zubereitung. Er erklärt, wie die Soße gemacht ist, wie lange das Fleisch im Ofen war. Er erklärt alles und kocht dann alles. „Manchmal ist man überrascht“, sagt sie. „Man hat eine Assoziation, aber dann ist vielleicht die Soße so intensiv – die Soße ist ja meistens ausschlaggebend  –, dass ich meinen ersten Gedanken wieder verwerfe: Ich nehme nicht den Rotwein, sondern einen im Barrique ausgebauten Chardonnay oder Sauvignon Blanc.“ Das gilt für die Richtung Wein-zu-Essen. „Ein Wein“, sagt sie, „muss eine Vision erzeugen, welche Speisen dazu passen könnten.“

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Zwischen modernem Chic und rustikalem Speicherflair: Das VLET verbindet die Atmosphäre der restaurierten historischen Lagerböden mit gehobenem Stil

Was heißt das für den Augenblick der Wahrheit? Gibt man sich eine Blöße, wenn man gesteht, dass man von den Weinen noch nie gehört hat? Nein. Die Sommelière kann deine beste Freundin sein. Sie will nicht in erster Linie teure Weine verkaufen. Ihre Freude ist am größten, wenn jemand einen Wein genießt, den sie liebt. Um herauszufinden, welcher Wein der richtige für diesen Gast ist, muss Grünberg halb Detektiv, halb Psychologe sein. Kenner sind schnell erkannt und leicht zu handeln. Verwirrte Gäste brauchen mehr Fingerspitzengefühl. Mit ein paar Fragen erfährt sie, was ihre Gäste mögen und ob sie abenteuerlustig sind. Hier kommt der Detektiv zum Zuge. Sie mögen dieses kribbelnde, prickelnde Gefühl im Mund? Dann vielleicht ein Wein mit viel Säure, einen Burgunder? Sie haben mal einen Wein getrunken, der sich wie Wolle auf der Zunge anfühlte? Spricht das für viel Tannine? Manche Gäste machen es sich leicht und fragen: Was würden Sie trinken? Das ist  schwierig, denn viele Weinliebhaber scheuen sich davor, fremde oder extreme Geschmäcker zu empfehlen. Denn sie sind Glückssache. Wie der Pithium, ein Amphorenwein von Bassermann-Jordan, auf der VLET-Karte. Ein Verschnitt aus Gewürztraminer und Grauburgunder, in dicken Ton gefüllt (allerdings nicht eingegraben, wie es einige tun), duftet kräftig, würzig nach gebratenen Früchten, getrocknetem Obst und – wenn man mal ehrlich ist – nach alter Zigarrenbox und nassem Kiesel.

Es ist wichtig, dass der Weinexperte ein ehrliches Vokabular entwickelt. Das gilt für Grünberg genauso wie für ihre Mitarbeiter, denn bei 100 Plätzen kann sie nicht jeden Tisch beraten. „Die Mitarbeiter müssen Weinempfehlungen aussprechen, und dafür eine eigene Sprache entwickeln“, sagt sie. „Es gibt natürlich Basics: Der Grüne Veltliner ist kräuterig, der klassische Sauvignon Blanc schmeckt wie eine Fruchtbombe, nach Zitrus und Mango schmecken. Aber am Ende muss jeder selbst entscheiden: Wie riecht der? Wie schmeckt der? Denn“, fügt sie hinzu, „Verallgemeinern ist ganz schlimm. Das ist wie auswendig lernen und dann aufsagen.“ Manche Kellner empfehlen Weine, die sie kennen und von denen sie wissen, dass Gäste sie mögen. Das bedeutet aber, dass bei einer Weinkarte mit 150 Weinen die Kellner nur einen kleinen Teil nach vorne bringen und den Rest jenen Gästen überlassen, die sich auskennen. Inzwischen kennen sich aber recht viele Gäste aus, und Kellner kommen nicht so einfach davon. Deshalb ist es Neele Grünberg wichtig, ihre Mitarbeiter gut zu schulen. Andererseits wird sie sich irgendwann damit abfinden, dass der Lernprozess bei Wein kein Ende hat. Er wird zu einer Art spiritueller Erfahrung. Jedes Jahr wachsen neue Trauben, ein neuer Jahrgang, und es gibt nie genug Zeit, alle Weine zu probieren.

 

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Weintipp

Neun Gläser Wein ohne Aufschrift. Frisch abgefüllt aus dem Fass. Drei verschiedene Weißburgunder aus jeweils drei verschiedenen Lagen. „An jedem war etwas anders. Ich sage jetzt nicht, was! Das ist geheim!“ Um herauszufinden, welcher davon der Beste ist, ist Neele Grünberg zusammen mit Thomas Sampl in die Pfalz gefahren. Dort, auf dem Weingut Dr. Wehrheim, wurden ihnen die neun Gläser zur Blindverkostung serviert, bevor der Winzer den Raum verließ und sie in Ruhe probieren ließ. Keine leichte Entscheidung. Zurück in Hamburg ließen sie sich noch einmal ihre drei Favoriten zusenden und haben dann entschieden. Der erste Wein der hauseigenen VLET-Linie, ein erstklassiger Weißburgunder aus der Pfalz. Er schmeckt nach … Nun, das muss jeder selbst rausfinden

 

Text: Nikolai Antoniadis, Fotos: Jonas Wölk
Quartier 24, Dezember 2013–Februar 2014 , Rubrik:    
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