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Schall und Raum

Im Elbtorquartier am Magdeburger Hafen entsteht das auf die speziellen Bedürfnisse seiner zukünftigen Bewohner zugeschnittene und von diesen selbst initiierte Musikerhaus. Betrachtungen über ein Bauprojekt, das Schule machen sollte
Musikerhaus Visualisierung

Die Fassade des Musikerhauses in der Visualisierung des verantwortlichen Architektenbüros 360grad+ aus Hamburg

Einheimische und Auswärtige kennen das gelbe „König-der-Löwen“-Zelt am südlichen Elbufer gut. Gleich daneben steht der Neubau, in dem im November das vierte Musical-Theater Hamburgs eröffnet wird. Die Eigentümerin, Deutschlands führende Musical-Produktionsgesellschaft, projektiert derzeit eine Seilbahn, die künftig von St. Pauli aus die Anbindung an die zwei Spielorte in Steinwerder erleichtern soll. Hamburg – Musical-Hauptstadt der Republik? Die schiere Präsenz des Genres lässt einen leicht vergessen, dass dieser Werbeslogan nur die halbe Wahrheit ist. Denn immerhin hat es in Hamburg schon seit Jahrhunderten eine lebendige Kultur Musikschaffender gegeben, die durchaus ernstzunehmende Kunst hervorgebracht hat.Georg Philipp Telemann war Anfang des 18. Jahrhunderts Musikdirektor in Hamburg; Johannes Brahms, 1889 zum Ehrenbürger ernannt, stammte aus dem mittlerweile zerstörten Gängeviertel. In den Jahren 1891 bis 1897 dirigierte Gustav Mahler als Erster Kapellmeister am Stadt-Theater und vollendete während dieser Zeit sein vielleicht beeindruckendstes Werk, die 2. Sinfonie mit dem Titel „Auferstehung“. Und auch für die Beatles begann rund 60 Jahre später in Hamburg eine weltweite Karriere. Und gegen Ende des 21. Jahrhunderts schließlich hatte eine hiesige Bewegung beträchtlichen Einfluss auf das Erstarken der deutschlandweiten Indie-Pop-Szene, die ihre Herkunft sogar im Namen trägt: die sogenannte Hamburger Schule.

Rückzugsorte für Musiker

Dass die Hansestadt also über sämtliche Genre-Grenzen hinweg musik-affin ist, lässt sich nicht bestreiten. Aber mal ehrlich: Hätten Sie gerne die Beatles als Nachbarn gehabt? Oder neben dem Übungsraum von Wir sind Helden gewohnt? Kaum jemand würde von sich selbst behaupten, keine Musik zu mögen – aber musizieren und proben sollen die Künstler doch bitteschön irgendwo anders; nicht gerade in der Nachbarwohnung! Und selbstverständlich nicht zur Feierabendzeit. Dabei ist diese Haltung durchaus verzeihlich, denn, wie Dr. Watson gegenüber Sherlock Holmes bemerkte, „eine gut gespielte Geige ist ein Geschenk für die Götter – eine schlecht gespielte hingegen …“ Und aller Anfang ist, wie wir wissen, schwer.

Es liegt also auf der Hand, dass eine lebendige und sich stets erneuernde Musik-Szene einen dringenden Raumbedarf hat. Und damit sind zunächst einmal nicht immer neue Spielorte gemeint – Bühnen, die von Entertainment-Konzernen im Sinne der Gewinnmaximierung geplant und erstellt werden –, sondern Rückzugsorte für Musiker. Räume, in denen sie die Möglichkeit haben, ungestört (und ohne andere zu stören) üben zu können. Ein solcher Rückzugsort entsteht derzeit nahe der HafenCity Universität im Elbtorquartier. Bemerkenswert dabei ist, dass das Bauprojekt nicht „von oben“ – also von der öffentlichen Hand – geplant wurde, sondern quasi „von unten“: Auftraggeber ist eine Baugemeinschaft, die mit den Lebensräumen für Musiker weitgehend einen Eigenbedarf deckt.

Nachhaltig und multi-kulturell: Musikerhaus in der HafenCity

Zugegeben, im Augenblick sehen die Nummern 16 bis 20 in der Shanghai-allee noch nicht besonders spektakulär aus. Die Grundsteinlegung erfolgte am 19. April 2013; und noch ist das Haus von Gerüsten verdeckt. Doch bereits im August dieses Jahres soll das Gebäude bezugsfertig sein. Mit seiner Rotklinkerfassade gliedert es sich harmonisch in die bestehende Backsteinarchitektur der Speicherstadt ein; optisch unverwechselbar wird es durch die unregelmäßig vorspringenden Fenstereinfassungen. Das Einzigartige daran jedoch verbirgt sich im Inneren: Die Wohnungen sind nach dem Haus-im-Haus-Prinzip schallisoliert; in zwölf der insgesamt 36 Einheiten stehen sogar komplett schallentkoppelte Übungsräume zur Verfügung, in denen die zukünftigen Bewohner zu jeder Tages- und Nachtzeit üben können. Bis zu 80 Dezibel können in diesen Kuben erzeugt werden, ohne dass in den Nachbarwohnungen etwas davon zu hören ist. Aber nicht nur in puncto Schallschutz setzt die Bauweise Zeichen: Aufgrund seines hohen Energie- und Nachhaltigkeitsstandards wurde das Musikerhaus mit dem Umweltzeichen der HafenCity in Gold vorzertifiziert.

Richtfest Musikerhaus

Beim Richtfest im November 2011 gehörte natürlich – neben einer kurzen Rede von Jürgen Bruns-Berentelg von der HafenCity Hamburg GmbH (unten rechts) – Musik zum Rahmenprogramm. Oben rechts: Bauleiter Ralf Albrecht, Oberbaudirektor Jörn Walter und Giselher Schultz-Berndt von der HafenCity Hamburg GmbH bei der Grundsteinlegung im April 2013

Alle Wohneinheiten sind übrigens bereits reserviert – von Angehörigen 13 verschiedener Nationalitäten. Und in der Gewerbeetage wird Platz sein für Einzelhandel und Dienstleistungen rund ums Thema Musik. So leistet das Musikerhaus einen weiteren Beitrag zur Diversifizierung, die in dem neuen Stadtteil schon von Anfang an Programm war. Susanne Bühler, Pressesprecherin der HafenCity GmbH: „Das Musikerhaus ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie vielfältig das Wohnungsangebot in der HafenCity bereits ist und wie sehr es sich auf spezifische Bedarfe von Bewohnern ausrichtet.“

Städter gestalten ihre Stadt

Konzeption und Bauleitung des 14-Millionen-Projektes übernahm die Bürgerstadt AG, die bereits mit der Realisierung von Musikerhäusern in Potsdam, Berlin und Frankfurt Erfahrungen gesammelt sowie ein Architektenhaus am Kaiserkai in der HafenCity realisiert hat. Sie betreut und begleitet von ihr initiierte Bauprojekte von Anfang bis Ende. Durch professionelle Projektsteuerung gewährleistet sie Kostensicherheit, Bauqualität und Einhaltung des Planungsablaufs während des gesamten Bauprozesses.

Während derzeit bundesweit Großbaustellen, am Bedarf vorbei geplant und mit ausufernden Kosten für die Allgemeinheit belastet, die Schlagzeilen bestimmen, offeriert das Musikerhaus ein erfreuliches Beispiel dafür, wie Bürger sich die Planungshoheit über ihren Lebensraum zurückerobern! Und warum sollte das Prinzip einer branchenspezifischen Baugruppe ausschließlich für Musiker funktionieren? Nach demselben Muster könnten in Zukunft beispielsweise auch Atelierwohnungen für bildende Künstler oder Studiogemeinschaften für Bild- und Toningenieure entstehen. Es bleibt zu hoffen, dass dem Projekt großer Anklang beschieden sein wird und dass das Konzept auch für andere Berufs- oder Interessensgruppen Schule machen wird.

Text: Urs N. Jascht, Visualisierung: 360grad+, Fotos: Thomas Hampel
Quartier 26, Juni–August 2014 , Rubrik:    
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