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Steife Prise

VLET-Küchenchef Thomas Sampl erzählt von alten Gemüsesorten und guten Köchen und erklärt, was er von Garnelen mit Glasnudelsalat hält

Thomas Sampl

Thomas Sampl im VLET: Um das Restaurant am Sandtorkai so leer zu erleben, muss man allerdings einen Fototermin haben. Zu den üblichen Geschäftszeiten findet man ohne Reservierung kaum einen Platz

„Bis vor wenigen Jahren hatten deutsche Köche keine eigene Identität.“ Thomas Sampl zuckt verständnislos mit den Achseln. „Die haben eigentlich immer nur Frankreich nachgeeifert. Regionale Küche war denen total wurscht.“

Als Sampl vor sechs Jahren Küchenchef im VLET Restaurant wurde, hatten viele für das Konzept „Fine Dining mit norddeutscher Küche“ kaum mehr als ein müdes Lächeln übrig. Hamburger Küche, was soll das sein? Fischbrötchen? Regionale Küche, hier im Norden, das war bestenfalls Hausmannskost, minderwertig, zumindest für ein Restaurant mit Anspruch. Aber auch für einen Koch mit der richtigen Ambition war es nicht ganz einfach, diese Idee umzusetzen; denn in weiten Teilen Deutschlands fehlte es nicht nur am rechten Willen, sondern auch an Möglichkeiten. „Wenn ich früher meine Speisekarten geschrieben habe, bin ich die Angebote von fünf Lieferanten durchgegangen und habe daraus dann meine Abendkarte zusammengestellt. Das haben aber 100 andere Köche auch gemacht, die auch alle dieselben Zutaten benutzten“, sagt Sampl und fügt hinzu: „Wir haben in Deutschland ein riesiges Problem, gute Lebensmittel zu bekommen.“

Seit ein paar Jahren ist aber Bewegung in diese festgefahrene Situation gekommen. In Hamburg und seiner näheren Umgebung sind zahlreiche kleinere und größere Unternehmen entstanden, die Wert auf Vielfalt und Qualität legen, Fischmanufakturen, Getreidemühlen, Biolandhöfe. Das VLET kann heute auf über 100 verschiedene Lieferanten zurückgreifen. Fünf davon bauen zum Beispiel alte Gemüsesorten an, die längst aus dem Sortiment der Supermärkte verschwunden sind. Sampl bietet im VLET auch keinen französischen Käse an, weil er allein aus norddeutschen Meiereien 43 verschiedene Käsesorten bezieht.

„Wir haben in Deutschland ein riesiges Problem,
gute Lebensmittel zu bekommen“

Regional ist natürlich nicht grundsätzlich gut. Denn warum sollte Rindfleisch aus Süderbrarup besser sein als das aus Oberstdorf? Der Begriff ist außerdem hochinflationär, sogar Chips-Hersteller werben heute auf ihren Packungen damit, dass sie ihre Kartoffeln vom Bauern um die Ecke beziehen. Das zeigt allerdings auch, welchen Stellenwert „regional“ heute hat.

„In Zusammenarbeit mit den Erzeugern kann man als Koch viel erreichen“, erklärt Sampl. „Zum Beispiel wenn man sie überredet, neue Sorten anzubauen. Wir können inzwischen auf viel mehr Lebensmittel zurückgreifen. Wenn ich heute eine Speisekarte schreibe, habe ich eine Liste mit 50 Zutaten, die ich noch nicht verarbeitet habe, verschiedene Öle, Essige, getrocknete Fichtensprossen, zum Teil verrücktes Zeug, mit dem man sich jetzt erst beschäftigt!“ Von vielen Zutaten haben die meisten noch nie gehört. Spitzkohl? Schwarzwurzel? Was sind Pastinaken? Und: Was kann ich damit machen? „Wenn Sie mir sagen, dass Ihr Kind keine Rote Bete isst, dann müssen Sie sich mal mit den Lebensmitteln beschäftigen, die Sie für Ihr Kind kaufen. Die Rote Bete ist das Letzte, das die Industrie uns übrig gelassen hat.“ Dabei gibt es viele verschiedene Sorten, Gelbe Bete, Weiße Bete, Ringelbete, die nicht nur kitschig aussieht, sondern auch ganz anders schmeckt, süßer, nicht so erdig. Selbst die gehobenen Supermärkte führen in der Regel alle dasselbe. Wer zum Beispiel in die neue Rindermarkthalle in St. Pauli geht, findet dort eine gewaltige Gemüsetheke. Es gibt aber nicht mehr verschiedene Sorten, sondern einfach nur mehr von denselben Sorten. Da liegen dann 400 glänzende, gleich große Auberginen neben 400 glänzenden, gleich großen Paprikas.

Inzwischen kommen alte Sorten wieder, wenn auch langsam, denn die wenigsten können damit umgehen. Ein guter Koch ist für Sampl deshalb nicht jemand, der sich ein Rezept ausdenkt und das dann nachkocht. Ein guter Koch beschäftigt sich mit dem, was er macht: Was für Produkte verwende ich? Wo kommen die her? Wie kann ich sie verarbeiten? Das hat auch mit Physik zu tun, mit Biologie, etwa wenn es um Fermentierungsprozesse geht. „Wir finden heute zurück zu Techniken, die vor 200 Jahren bekannt waren, als noch nicht alles unter diesen Normen-Mantel gepackt war“, erklärt Sampl. Viele junge Köche denken heute wieder in diese Richtung. Warum? Weil es besser schmeckt! Und Geschmack überzeugt immer.

Thomas Sampl

Nordisch ja, deftig nein: Thomas Sampls Interpretationen norddeutscher Küche sind weit entfernt von schwerer Hausmannskost

Trotzdem war die Entscheidung des VLET, auf norddeutsch und hamburgisch zu setzen, ein kleines Wagnis. Der Stadtteil stand 2008 noch am Anfang seiner Entwicklung. Das Mutterunternehmen NordEvent war als Caterer bekannt, hatte aber als Gastronomie keine Reputation. Um sich vom CARLS abzugrenzen, das als zweites Fine-Dining-Restaurant fast zeitgleich am Kaiserkai eröffnet hatte, setzte man auf „regional“ – und wurde dafür belächelt. Aber man blieb dabei; mit Thomas Sampl holte Nord-Event-Chef Hans-Christoph Klaiber im Januar 2009 einen jungen Koch in die Speicherstadt, der damals seit drei Jahren Küchenchef des renommierten Restaurants Apples im Hyatt war. Seitdem kocht, interpretiert und verfeinert Sample norddeutsche Rezepturen im VLET. Auf seiner Suche nach authentischer Kochkunst aus Deutschlands Norden sammelt er alte Kochbücher, stöbert sie bei Wohnungsauflösungen auf, erhält sie von Stammgästen, arbeitet sich durch Sütterlin-Texte und veraltete Namen für Gewürze, kocht Rezepte nach – was nicht immer ganz einfach ist. Die Esskultur hat sich in den vergangenen 150 Jahren verändert; wenn heute der Geschmack zählt, ging es früher häufig darum, satt zu werden. Alte Gerichte sind deshalb häufig sehr fett. Für das VLET werden sie deshalb von Sampl variiert. Wie die Scholle Finkenwerder. Sie ist für (fast) jeden ein Begriff; üblicherweise wird sie links und rechts gebraten, mit kräftigen Speckstückchen garniert und kommt dann auf den Teller. Regional ja, aber wenig spannend, bis Sampl in einem alten Rezeptbuch eine überraschende Variante aufspürte: mit einer Panade aus Zwieback und Panierbrot, angebraten und dann in den Ofen gelegt; anschließend wird sie von der Gräte gezogen und ist, wie Sampl feststellte, „superknusprig, supersaftig, superlecker“. Er gab dem Ganzen noch eine gewisse VLET-Note mit einer Salzbeize und getrockneter Zwiebel – fertig war die Scholle Finkenwerder à la VLET. Natürlich gibt es Menschen, die regionale Küche konservativ verstehen und sich fragen, warum sie gebackenen Fisch bekommen, wenn sie Scholle bestellen. „Die werden auch immer Garnelen mit Glasnudelsalat essen. Mit dem Thema Antibiotika brauchen Sie denen gar nicht kommen!“, sagt Sampl. „Die wollen auch Steinbutt mit Kartoffelpüree, ob der vom Aussterben bedroht ist oder nicht.“ Aber die Gäste, die heute ins VLET gehen, haben keine Berührungsängste, im Gegenteil kommen sie natürlich gerade wegen dieser besonderen Handschrift.

Das Konzept ist aufgegangen. An manchen Samstagen muss Sampl 30 bis 40 Gästen absagen, weil das Restaurant ausgebucht ist. Das liegt auch daran, dass er bei aller Leidenschaft an den Kochplatten auch als Geschäftsmann denkt. Es gibt neben dem Restaurant am Sandtorkai seit Kurzem auch einen sehr erfolgreichen VLET-Cateringservice, ab 2015 auch eine VLET-Kochschule im Emporio am Valentinskamp und einen VLET-Ableger am Jungfernstieg, im ehemaligen Friesenkeller unter den Alsterarkaden. Die Küche dort wird keine Neuauflage der Küche in der Speicherstadt, sondern – wie der gebürtige Westfale Sampl erklärt – bodenständig und ur-hamburgisch. Und wenn einer weiß, was das ist, dann er.

Text: Nikolai Antoniadis, Fotos: Jonas Wölk, Astrid Hüller 

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Vierländer Ente

… schmeckt von November – ab dem Martinstag – bis Neujahr

Zutaten für 4 Personen
100 g Karotten
100 g Sellerie
100 g Äpfel
100 g Metzgerzwiebeln
Butter
Kräuterstiele (Kerbel, Petersilie, Majoran, Oregano, Rosmarin oder auch Thymian
Meersalz
Schwarzer Pfeffer
1 Landente (ca. 1,8 kg)

Zubereitung
1
Karotten, Sellerie und Äpfel waschen und in walnussgroße Stücke schneiden. Die Metzgerzwiebeln schälen und ebenfalls würfeln.

2 Die Zwiebeln in einem Topf mit Butter anschwitzen. Karotten, Sellerie und Apfelstücke mit den Kräuterstielen hinzugeben und ebenfalls mitschwitzen. Das Gemüse kräftig mit Meersalz und schwarzem Pfeffer würzen, abschmecken und sogar etwas überwürzen. Die Masse auskühlen lassen.

3 Die Ente für den Ofen vorbereiten. Hierfür zunächst den Hals und die vorderen Flügel abschlagen und für eine andere Verwendung beiseite legen. Die Ente mit der überwürzten Füllmasse stopfen, zubinden, mit Meersalz einreiben und alles eine Viertelstunde einwirken lassen. Danach die Ente 20 Minuten in sprudelndes Salzwasser geben, damit das überschüssige Fett abläuft und sich später eine besonders knusprige Haut bildet. Die Ente kalt abspülen und auskühlen lassen.

4 Den Backofen auf 165 Grad vorheizen. Die Ente auf ein Gitter mit Blech darunter in den Backofen geben. Die Temperatur sollte folgendermaßen erhöht werden:

165° 10 Minuten
185° 15 Minuten
195° 15 Minuten
210° 20 Minuten

Bei Temperaturerhöhung die Ente jeweils kurz aus dem Ofen nehmen und mit dem Fett, das sich auf dem Blech unter der Ente gebildet hat, kurz abpinseln. Die erforderlichen Garzeiten variieren je nach Backofen und Tier. Sollte schon sehr früh eine sehr knusprige Bräunung erreicht sein, muss die Temperatur nach unten korrigiert werden. Wenn die Ente schön braun ist und mindestens eine Stunde im Ofen war, wird sie aus dem Ofen genommen und sollte zehn Minuten ruhen, sodass der Fleischsaft nicht ausläuft. Erst danach anschneiden.

Dazu passen Knödel und Rotkohl.

Aus dem Kochbuch Hamburger Küche von Thomas Sampl und Nicole Keller

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Quartier 28, Dezember 2014–Februar 2015 , Rubrik:    
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