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Der fremde Blick

Er liebt Städte. Ihre Architektur, ihre Gerüche, ihre Menschen. Und doch lebt er heute in einer kleinen Holzhütte mitten in der Natur. Nur selten nimmt der Fotograf Alex Gaultier einen Auftrag an, um noch einmal Stadtarchitektur abzulichten. Beispielsweise einmal im Jahr, wenn die italienisch-spanische Architektin Benedetta Tagliabue ihn nach Hamburg schickt

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Der Fotograf Alex Gaultier in seinem Haus nahe Barcelona (Foto: Marta Roca)

„Ich habe den Untergang der Metropolen gesehen“, sagt Alex Gaultier. „Die meisten Städte haben in den letzten 15 Jahren ihr Gesicht verloren. Und, viel schlimmer: ihre Seele.“ Was man verharmlosend „Gentrifizierung“ nenne, sei in Wahrheit trauriger Zeitgeist, findet der Fotograf. Deshalb hat er sich aufs Land zurückgezogen, wo er sich von selbst angebautem Gemüse aus dem eigenen Garten ernährt. Eine Holzhütte gibt ihm Obdach. Was klingt wie ein Spleen à la Henry David Thoreau, hat einen ernsten Hintergrund: eine Ent-Täuschung, eine Seelenverwundung. Ja, es verletze ihn, was mit den großen Städten der Welt geschehe. Wie sie sich selbst verkauften, die einstmals stolzen Metropolen, wie sie zu Touristenschaustücken würden, anstatt Zeichen zu setzen in einer Welt, deren eigentliches Edelmetall Plastik sei.

Und Hamburg? Alex Gaultier überlegt, bevor er schließlich Antwort gibt. Dabei sieht man seinem Gesicht an, dass er es gewohnt ist, sich Gedanken zu machen. Große Gedanken. Ernste Gedanke. Umfassende Gedanken. „Wenn ich in Hamburg bin, schmecke ich immer noch die wilde, schöne DNA der Hansestadt“, sagt er dann. „Aber ihr Hamburger müsst aufpassen! Was die Stadt groß gemacht hat, war eine Edginess, eine Härte, ein Mut zur Wahrheit, Eigenschaften, die auch Heinrich Heine damals gelockt haben. Früher war die Grundhaltung der Hanseaten der Stolz. Heute ist es Marketing. Was das genaue Gegenteil von Stolz ist.“

Nicht immer schwor der Fotograf auf Selbstangebautes. Er kennt auch einen anderen Ernährungsplan. Denn die ersten 25 Jahre seines Lebens wuchs er in der Feinschmeckermetropole Paris auf. Anschließend lebte er in verschiedenen europäischen Großstädten, arbeitete lange in New York und wählte zuletzt Barcelona als Heimathafen für seine Exkursionen in die Welt.

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Startschwierigkeiten beim Eintritt in neue Lebenswelten: Manch einer fremdelt noch in der HafenCity


„Heute hängt mir das Global Village zum Hals raus“, sagt er. Wirklich sei der Mensch der Hypermoderne ein Dorftrottel. Gaultier macht keinen Hehl aus seiner Verachtung für Menschen, deren einzige Sorge es ist, wie sie noch mehr verdienen können. Er ist immer schon nur seiner Leidenschaft, seinem Herzen gefolgt. Seine Berufswahl hat ihn schon früh in die Welt hinausgetrieben. Gaultier fotografierte jahrelang für unterschiedliche Auftraggeber Menschen und Gebäude in den großen Städten rund um den Globus. Irgendwann jedoch wollte er nicht mehr. Das innere Widerstreben wurde zu groß. Die Menschen auf seinen Aufnahmen, erzählt er, wären ihm immer mehr vorgekommen „wie Bildstörungen, wie Beiwerk, Staffage! Und dabei sollten sie doch das Zentrum bilden!“

Er vernahm in sich den Ruf der Wildnis. Verspürte das Bedürfnis, seine Sinne zu schärfen, indem er sie auf Diät setzte. So wandte er der aufreibenden, touristenüberfüllten Hauptstadt Kataloniens den Rücken und ging ins innere Exil. Aus dem Kosmopoliten wurde ein konsequenter Aussteiger. Das kleine Landstück, das er für seinen täglichen Speiseplan bewirtschaftet, liegt mitten in der Natur. Die Einrichtung seiner Holzhütte ist fast programmatisch spärlich, mit Ofen, kleiner Küche, Schreibtisch.

Seit rund fünf Jahren entzieht sich Gaultier hier „dem Wahnsinn der Welt“. Einen besseren Ort zum Leben kann er sich nicht mehr vorstellen. Nicht nur sein Gaumen hat in den letzten Jahren das Einfache, Reduzierte, Pure zu schätzen gelernt.

Für ausgewählte Aufträge verlässt er nach wie vor sein Domizil, um als Fotograf durch die Welt zu reisen. Seine Arbeit ist gefragt, sein Blick auf die Dinge irgendwie besonders. Zu seinen Kunden gehört deshalb auch Benedetta Tagliabue, die das renommierte Architekturbüro EMBT in Barcelona leitet. Auf seine unverwechselbare Art dokumentiert Gaultier die von Tagliabue realisierten Objekte – beispielsweise den Hauptsitz des multinationalen Konzerns Gas Natural in Barcelona oder von EMBT entworfene Universitätsgebäude und städtische Marktanlagen.

Auch nach Hamburg kommt Alex Gaultier im Auftrag von EMBT einmal im Jahr. Hier hat er die im Jahr 2000 fertiggestellte Erweiterung der Staatlichen Jugendmusikschule am Rothenbaum abgelichtet und die über mehrere Jahre realisierten Freiflächengestaltungen in der HafenCity. Bei seinen regelmäßigen Stippvisiten konnte er die Entwicklung des Quartiers und speziell der EMBT-Projekte im Kontext des rasant wachsenden innerstädtischen Bauprojekts kontinuierlich beobachten. Das macht seine fotografische Dokumentation besonders reizvoll, nicht nur für seine Auftraggeberin.

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Gaultiers ausgeruhter Blick erfasst nicht nur architektonische Stillleben


Für ihn selbst sind diese Reportageaufenthalte aber kein reines Vergnügen. Wenn er mit seiner einfachen Spiegelreflexkamera durch die Großstadtwüsten schleicht, kommt es zuweilen vor, dass er bei den Einheimischen offener Feindseligkeit begegnet. Die Touristen hingegen lassen sich ohne Widerstreben ablichten. „Für die ist die HafenCity ohnehin nur Kulisse“, wie Gaultier feststellt. „Ein touristischer Programmpunkt, eine Seite aus dem Reiseführer.“

Gaultier arbeitet mit geringem technischem Aufwand: ohne Tilt-Shift-Objektive, ohne Stativ, ohne Assistenten und ohne künstliche Beleuchtung. Genau das scheint Teil des Problems zu sein. Denn die Menschen seien nur noch an „künstliche Momente“ gewöhnt, „an Inszenierungen, an Pappmaché, Fake, Schwindel.“ Gaultier verzieht sein Gesicht. Fast sieht es aus, als wolle er in seinen Cappuccino spucken.

Was seine Auftraggeberin Tagliabue in Wahrheit interessiert und weswegen sie ihn regelmäßig überzeugt, sein Landstück zu verlassen, ist die Frage, wie ihre Entwürfe in der HafenCity angenommen werden. Wird aus ihrer Zielsetzung, Plätze zu schaffen, über die Menschen flanieren und auf denen sie verweilen, langsam Realität? Ja, die HafenCity werde lebendiger, sagt Gaultier. Bei jedem neuen Besuch könne er ein Mehr an Bewegung konstatieren. Das Problem aber: Immer noch seien die meisten der Menschen, die man hier antrifft, Touristen. In seiner Zeit in Barcelona hat Gaultier dafür ein untrügliches Gespür entwickelt. „Von einer authentischen, lebendigen Wohnkultur kann man bei der HafenCity nicht reden“, sagt Gaultier scharf. Sein Rapport an Benedetta Tagliabue: Ihre Stadtlandschaften seien tagsüber Spielwiese für Besucher und nachts verwaist. Anwohner verirrten sich nur selten auf die Fotos.

Die Bewohner der HafenCity sind von der Idee einer sozial durchmischten und weltoffenen HafenCity offensichtlich nicht allzu begeistert, meint Alex Gaultier, und er setzt hinzu: „Das kann nicht überraschen. Heute haben die Menschen ein Grundgefühl: Angst. Das zeigt sich auch hier. Die Leute fühlen sich nur noch in Shoppingtempeln heimisch. Shoppen tötet die Angst. Betäubt. Löscht den Zweifel aus. Der offene Platz hingegen hat irgendwie etwas Terroristisches, in ihrer Perspektive.“

Und doch glühen seine Augen auch gelegentlich vor Leidenschaft, wenn er über den neuen Stadtteil spricht. Über dessen Startschwierigkeiten, die, wie er es ausdrückt, „so menschlich“ seien, Symptom eines Fremdelns mit einer immer fremder werdenden Online-Welt, die man kaum mehr in den Offline-Modus bekäme. Das Neue, sagt Gaultier, sei nicht immer automatisch das Gute. Klar. „Aber wenn das Alte sich überlebt hat, muss man weiterziehen.“ Und sei es nicht auch völlig in Ordnung, dass es ihm schwerfalle, mit dem radikalen Wandel der großstädtischen Lebenswelten Schritt zu halten, auch im Kopf? „Ich bin halt auch älter geworden“, setzt er mit einem nostalgischen Lächeln hinzu.

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Dolce vita in Hamburg: gern auch mal mit Regenschirm (links), Das nordische Licht – Inspirationsquelle auch für südliche Freigeister (rechts)


Gleichwohl, was zählt, ist immer noch die Gegenwart als Startschuss für die Zukunft. Der Fotograf ist gespannt, wie das hochstrebende Konzept der Signora Tagliabue aufgehen wird. Hamburgs mediterrane Seite? Die Leichtigkeit, sagt Alex Gaultier, die sei ja da in der Stadt. Die sei auch ein Erbteil der Hanseaten. Und letztlich, sagt er dann, fast zum Abschluss, zweifele er nicht daran, keine Sekunde, dass diese Liebe zum Leben, zur Offenheit und zur Idee der Stadt (in welcher Offenheit und Lebendigkeit sich umarmten) am Ende den Sieg davontragen werde über Bänglichkeit und Zögern und „ganz normale Berührungsängste mit einer ungewohnten Lebensweise“.

Er freut sich auf diesen Durchbruch. Auf diesen Aufbruch, wie er es nach kurzem Nachdenken lieber nennen möchte. Alex Gaultier freut sich darauf, auf diesen entscheidenden Moment der Menschlichkeit. Er wird ihn in seinen Fotos dokumentieren.

 

Text: Sven Grönwoldt, Fotos: Alex Gaultier
Quartier 29, März–Mai 2015 , Rubrik:    
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