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Mehr als Backsteinromantik

120 Jahre Wandel und Kontinuität – die Entwicklung der Speicherstadt vom Lagerhausviertel im Zollausland zum Innenstadtquartier mit Flair.
Dicht gedrängt liegen die Schuten an der Wasserseite von Block E – diese Aufnahme des Brooksfleets aus dem Jahre 1931 illustriert die ursprüngliche Funktion der Speicherstadt als Lagerhauskomplex im Freihafen mit wasserseitiger Umschlagsmöglichkeit.

Dicht gedrängt liegen die Schuten an der Wasserseite von Block E – diese Aufnahme des Brooksfleets aus dem Jahre 1931 illustriert die ursprüngliche Funktion der Speicherstadt als Lagerhauskomplex im Freihafen mit wasserseitiger Umschlagsmöglichkeit. (1)

Vor 125 Jahren waren die Brookinseln eine Großbaustelle. In einer scheinbar unaufhörlichen Kette rumpelten Pferdefuhrwerke über das Kopfsteinpflaster, brachten Ziegel, Zement und andere Baumaterialien und fuhren Schutt und Erdreich weg. Das Fluchen der Fuhrknechte, deren Gespanne im aufgewühlten Erdreich stecken blieben, mischte sich mit dem monotonen Stampfen der Dampframmen – die Speicher stehen auf Holzpfahlgründungen – und dem Singsang der Niethämmer, die rhythmisch auf Metall schlugen.

Die Speicherstadt wurde in drei Abschnitten errichtet. Die Bauarbeiten wurden 1885 am Kehrwieder aufgenommen. 1888 erstreckte sich das Lagerhausviertel bereits bis zum Kannengießerort. Innerhalb von nur drei Jahren waren also 60 Prozent des späteren Gesamtbestands bereits fertiggestellt! In den 1890er Jahren entstand der verhältnismäßig kleine Bauabschnitt zwischen dem Neuen Wandrahm und dem St. Annenufer. Ab 1900 wurden die Speicher am Alten Wandrahm, am Holländischen Brook und am Brooktorkai errichtet, die 1912 fertig waren. Allein die östliche Hälfte von Block W wurde erst in den Jahren 1925 bis 1927 gebaut. Die geplanten Blöcke Y und Z auf der Ericusspitze wurden aufgrund der wirtschaftlichen Krisen der Weimarer Republik nicht mehr realisiert.

Der erste Bauabschnitt der Speicherstadt konnte nur deshalb so schnell abgeschlossen werden, weil die Einzelteile der stählernen Innenskelette montagefertig aus dem Ruhrgebiet geliefert wurden. Später gab man allerdings aus Brandschutzgründen der Zimmermannskonstruktion mit hölzernen Balken, Unterzügen und Ständern bzw. feuersicher ummantelten Stützen den Vorzug. Zunächst entstanden die Skelette der Gebäude. Dann wurden die Außenmauern quasi als Hülle um diese Gerüste gelegt. Die Androhung hoher Konventionalstrafen sorgte dafür, dass die Hersteller die Lieferfristen exakt einhielten. Selbstverständlich mussten auch vor Ort alle Arbeitsschritte reibungslos und vor allem termingerecht ineinander greifen.

Die Speicher wurden vor allem von den Handelshäusern genutzt. Aber auch verarbeitende Betriebe deponierten ihre Rohstoffvorräte gerne hinter den soliden Backsteinfassaden, bevor sie in die Produktion gingen, wofür das Freihafenprivileg einen zusätzlichen Anreiz bot. Nur der geringste Teil der Flächen wurde von der Eigentümerin der Speicherstadt, der Hamburger Freihafen-Lagerhaus-Gesellschaft (HFLG) – der späteren HHLA – selbst genutzt. Stattdessen wurden die Speicher an Quartiersleute vermietet, wie sich manche Lagerhalter im Hamburger Hafen noch heute traditionsbewusst nennen. Die Quartiersleute übernahmen die sachgerechte Lagerung, Bemusterung und Veredelung – das Reinigen, Sortieren und Mischen – der Waren auf „fremde Rechnung“, d. h. im Auftrag der jeweiligen Eigentümer. Transportiert wurde früher vor allem auf dem Wasser. Das war das Gewerbe der Ewerführer, wie die Arbeiter auf den Schuten paradoxerweise bezeichnet werden: „Echte“ Ewer haben Segel und auch ansonsten kaum Ähnlichkeiten mit den Schuten. Die Speicherstadt ist deshalb in das Kanalnetz des Hamburger Hafens eingebunden und jeder Speicher verfügt sowohl an der Land- als auch an der Wasserseite über Luken zum Aufnehmen der Waren. Der vertikale Transport der Güter auf die Lagerböden erfolgte mit außenliegenden Winden, die bis Anfang der 1950er Jahre hydraulisch, d. h. mit Wasserdruck, später elektrisch betrieben wurden. Außerdem war die Beleuchtung der Speicher aus Brandschutzgründen bereits 1888 voll elektrifiziert. Am Sandtorkai steht das ehemalige Kesselhaus, das die Dampfenergie lieferte, mit der die Pumpen und Generatoren in der benachbarten Maschinenstation angetrieben wurden.

Ein historisierendes Stadttor als märchenhafte Kulisse: Vor der Brooksbrücke weihte Kaiser Wilhelm II. am 29. Oktober 1888 die Speicherstadt ein. (2)

Ein historisierendes Stadttor als märchenhafte Kulisse: Vor der Brooksbrücke weihte Kaiser Wilhelm II. am 29. Oktober 1888 die Speicherstadt ein. (2)

Die „große Zeit“ der Speicherstadt war 1914 vorbei. Während der Inflationsjahre nach dem Ersten Weltkrieg und während der Weltwirtschaftskrise gab es erhebliche Leerstände. Bei den Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg wurde die Speicherstadt zu über 50 Prozent zerstört. Der Wiederaufbau der Lagerflächen zog sich bis 1963 hin. Die Blöcke A, B, C und J wurden überhaupt nicht wiederaufgebaut. Es ist das Verdienst des Architekten Werner Kallmorgen, dass die ausgebrannten und teilweise eingestürzten Speicher in enger Anlehnung an ihren ursprünglichen Zustand wiederhergestellt wurden. Nur dort, wo von den Gebäuden kaum mehr als die Grundmauern standen, wurden die Ersatzbauten völlig neu gestaltet. Ende der 1980er Jahre begann sich deutlich abzuzeichnen, dass die Speicherstadt keine wirtschaftliche Zukunft mehr als Lagerviertel hatte. Immer mehr Firmen verlagerten ihren Betrieb in moderne Lagerhallen und behielten ihren angestammten Speicher bestenfalls noch als Traditionsadresse. Dort wurden die Flächen dann nicht selten an Im- und Exportfirmen für Orientteppiche untervermietet, die sich auf diese Weise immer stärker zum Hauptnutzer der Lagerböden entwickelten. Eine handvoll traditioneller Quartiersmannsbetriebe hielt der Speicherstadt noch bis Mitte der 1990er Jahre die Treue. Doch immer weniger Auftraggeber waren bereit, die hohen Personalkosten in den Speichern zu akzeptieren. Seit zehn Jahren wandelt die HHLA die Speicher sukzessive in Flächen für klassische Büronutzer, aber auch für Gastronomie- und Großhandelsbetriebe um, z. B. aus der Modebranche, die hier ausreichend Platz für ihre Musterkollektionen finden. Die hierfür erforderlichen Baumaßnahmen erfolgen unter größtmöglicher Wahrung der originalen Bausubstanz und der charakteristischen Elemente wie Balkendecken, Gusseisenfenstern oder der typischen Goldbuchstaben an den Fassaden. Aus dem Lagerhausquartier wird wieder ein attraktiver Bestandteil der City, der mit seinem einzigartigen Ensemblecharakter und den vielfältigen Kultur- und Freizeitangeboten zudem längst zu den touristischen Highlights der Hansestadt zählt.

Text: Ralf Lange, Fotos: (1) Hamburger Hafen und Logistik AG (Gustav Werbeck), (2) Speicherstadtmuseum
Quartier Special 02 , Rubrik:    
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