« Zurück zur Übersicht

Speicher mit Zukunft

120 Jahre Wandel und Kontinuität – die Entwicklung der Speicherstadt vom Lagerhausviertel im Zollausland zum touristischen Kleinod in der Innenstadt.


Ein historisierendes Stadttor als märchenhafte Kulisse: Vor der Brooksbrücke weihte Kaiser Wilhelm II. am 29. Oktober 1888 die Speicherstadt ein.

Vor 125 Jahren waren die Brookinseln eine Großbaustelle. In einer scheinbar unaufhörlichen Kette rumpelten Pferdefuhrwerke über das Kopfsteinpflaster, brachten Ziegel, Zement und andere Baumaterialien und fuhren Schutt und Erdreich weg. Das Fluchen der Fuhrknechte, deren Gespanne im aufgewühlten Erdreich stecken blieben, mischte sich mit dem monotonen Stampfen der Dampframmen – die Speicher stehen auf Holzpfahlgründungen – und dem Singsang der Niethämmer, die rhythmisch auf Metall schlugen. Neugierig sammelten sich immer wieder bummelnde Handlungsgehilfen, Vierländer Marktfrauen in ihren traditionellen Trachten und heimkehrende Hafenarbeiter am gegenüberliegenden Ufer des Mührenfleets. Wo vor wenigen Monaten noch altersschiefe Fachwerkhäuser gestanden hatten, war das Gelände nun völlig freigeräumt und bot einen ungewohnten Panoramablick über den Großen Grasbrook hinweg. In der Ferne konnte man sogar den Gasometer am Strandkai sehen.

Die Speicherstadt wurde in drei Abschnitten errichtet. Baubeginn war 1885 am Kehrwieder. 1888 erstreckte sich das Lagerhausviertel bis zum Kannengießerort. Das waren bereits 60 Prozent des späteren Gesamtbestands! In den 1890er Jahren hatte man es dann nicht mehr so eilig, als der relativ kleine Bauabschnitt zwischen dem Neuen Wandrahm und dem St. Annenufer entstand. Ab 1900 wurden die Speicher am Alten Wandrahm, am Holländischen Brook und am Brooktorkai errichtet. Dort stand noch die barocke Grachtenbebauung, der man eine Gnadenfrist bis 1898 eingeräumt hatte und die nun innerhalb kürzester Zeit abgebrochen wurden, so dass die Arbeiter 1899 mit der Vorbereitung des Geländes und der Schaffung der Infrastrukturen beginnen konnten. Bis auf die östliche Hälfte von Block W (1925-27) war der Bau der Speicherstadt 1913 im wesentlichen abgeschlossen. Ihr weiterer Ausbau – die Blöcke Y und Z auf der Ericusspitze – fiel den wirtschaftlichen Krisen der Weimarer Republik zum Opfer.

Die Abriss- und Erdarbeiten für den Bau der Speicherstadt haben begonnen. Im Hintergrund rechts: der zu dieser Zeit bereits über 10 Jahre alte Kaispeicher B (1)

Der erste Bauabschnitt der Speicherstadt konnte nur so schnell errichtet werden, weil die Stützen, Unterzüge und Deckenbalken aus Eisenprofilen bestanden, die bereits montagefertig zusammengenietet aus dem Ruhrgebiet geliefert wurden. (Später gab man allerdings aus Brandschutzgründen der traditionellen Zimmermannskonstruktion bzw. feuersicher ummantelten Stützen den Vorzug.) Zunächst entstanden die Innenskelette der Gebäude. Dann wurden die Außenmauern quasi als Hülle um diese Gerüste gelegt. Die Androhung hoher Konventionalstrafen sorgte dafür, dass die Hersteller die Lieferfristen exakt einhielten. Und auch vor Ort mussten alle Arbeitsschritte reibungslos und vor allem termingerecht ineinander greifen, denn mit dem engen Zeitfenster hatten sich die Planer ein für die damaligen technischen Möglichkeiten mehr als ehrgeiziges Ziel gesetzt. Während in dem einen Bauabschnitt noch die ursprüngliche Bebauung abgebrochen wurde, war man im nächsten Baulos bereits mit den Erdarbeiten beschäftigt und 200 Meter weiter wuchsen schon die ersten Speicher empor. „Just in Time“ ist also keine Erfindung unserer Zeit.

Die Verbindung von Historismus und Logistik

Das Stahlskelett für Block E wird errichtet, im Hintergrund die Schornsteine des Kesselhauses. Ausgefeilte Logistik ermöglichte den Bau der Speicher in kürzester Zeit. Aus Brandschutzgründen wurde später auf traditionelle Konstruktionen mit Holztragwerk zurückgegriffen. (2)

Zu verdanken ist dieses Wunderwerk an Planung und Logistik in erster Linie Franz Andreas Meyer, dem Oberingenieur der Baudeputation, wie man die Baubehörde damals nannte. Die Hamburger Freihafen Lagerhaus Gesellschaft (HFLG), die Eigentümerin der Speicherstadt, war so zufrieden mit Meyer, dass sie seine Dienste auch weiterhin in Anspruch nehmen wollte. Bis zu seinem Tod 1901 fungierte Meyer deshalb neben seiner eigentlichen Tätigkeit als leitender Ingenieur der Stadt Hamburg auch als Gutachter für das halb private Unternehmen und konnte die Entwicklung der Speicherstadt somit auch weiterhin in seinem Sinne lenken. Vor allem die gestalterische Einheitlichkeit der Lagerhäuser ist Meyers Verdienst, der auch schon mal zum Rotstift griff, wenn ihm eines der Details auf den Plänen nicht gefiel. Aber natürlich standen für Meyer und die HFLG nicht Geschmacksfragen im Vordergrund, sondern vor allem die konstruktiven Details, die technische Ausrüstung der Speicher und nicht zuletzt auch immer wieder die Brandschutzprobleme, lagerten hier doch ungeheure Warenwerte.

Backsteinbauten verpflichten zu handwerklich sauberer Gestaltung

Schuten bestimmen das Bild: Die westliche Schauseite der Speicherstadt mit den Blöcken A und K, dazwischen das Kehrwiederfleet. Diese Blöcke wurden im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört, an ihrer Stelle steht heute das Hanseatic Trade Center. (3)

Meyer hatte, wie viele Hamburger Architekten, am Polytechnikum in Hannover studiert, der späteren Technischen Hochschule. Das Polytechnikum spielte eine herausragende Rolle für die gründerzeitliche Architektur, weil dort Conrad Wilhelm Hase lehrte, der die typischen Motive der Backsteingotik auf die damals modernen Bauaufgaben übertrug und in diesem Sinne ganze Architektengenerationen prägte. Nicht nur Kirchen und Stifte, auch Fabriken, Kraftwerke oder Hafengebäude erhielten neogotische Fassaden. Dabei ging es den Vertretern dieser „Hannoverschen Schule“ jedoch nicht nur um die Bevorzugung eines bestimmten Stils. Ebenso ausschlaggebend war das Streben nach einer materialgerechten und handwerklich sauberen Gestaltung, die sich bei Sichtmauerwerk geradezu zwangsläufig ergab. Bei Mauerwerk, das hinter Putz und Stuck verschwinden sollte, konnten die Handwerker schon mal „pfuschen“, bei Backsteinbauten aber nicht. Georg Thielen, der maßgebliche Architekt des ersten Bauabschnitts, hatte ebenfalls in Hannover studiert. Aber auch Hanssen & Meerwein und Gustav Schrader, die wichtigsten Architekten der nach 1888 errichteten Bauabschnitte, passten sich bereitwillig der von Meyer und Thielen vorgegebenen gestalterischen Grundlinie an.

Die repräsentativ gestaltete Fassade des Kopfbaus von Block O – hier residierte die HFLG, das Vorgängerunternehmen der HHLA. (4)

Zwei Entwürfe heben sich allerdings aus diesem Gesamtbild heraus, nämlich die beiden Verwaltungsgebäude der HFLG von 1887 bzw. 1903, die von den „Rathausbaumeistern“ Stammann & Zinnow und Hanssen & Meerwein und Johan-nes Grotjan stammen. Beide Gebäude stechen durch Sandsteingliederungen mit Motiven hervor, die nicht nur der übrigen Speicherstadt fremd sind, sondern wohl auch eher nach Süddeutschland als an die Elbe passen dürften, wie das Nürnberger „Chörlein“ an dem ersten Verwaltungsgebäude oder das reiche Maßwerk an dem Nachfolgebau. Mit Arkaden, einem Uhrtürmchen und einer Eingangshalle mit einem Kreuzrippengewölbe kombiniert das zweite Verwaltungsgebäude zudem typische Motive der zeitgenössischen Rathausarchitektur und unterstreicht somit das Bild einer Stadt aus Speichern. Kaum weniger romantisch gedacht waren auch die „Stadttore“ an der Brooksbrücke, der Jungfernbrücke und der Wandrahmbrücke, die leider bei den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg zerstört bzw. Anfang der 1960er Jahre dem Ausbau der Flutschutzanlagen geopfert wurden.

Quartiersleute und Ewerführer

Traditionelle Lagerhaltung in einer Quartiersmannsfirma: Auf den Böden wurden z. B. Gewürze, Nüsse, Kaffee oder Kakao gelagert. (5)

Die Speicherstadt wurde vor allem von den Handelshäusern genutzt. Aber auch verarbeitende Betriebe deponierten ihre Rohstoffvorräte gerne hinter den soliden Backsteinfassaden, bevor sie in die Produktion gingen, wofür das Freihafenprivileg einen zusätzlichen Anreiz bot. Typische Lagergüter waren Kaffee, Kakao, Gewürze, Tee, Pistazien oder Mandeln, aber z. B. auch Kautschuk, Tabak, importierte Häute und Naturdärme. Später kamen auch immer mehr (Halb-) Fertigprodukte hinzu, insbesondere pharmazeutische Erzeugnisse, Obstkonserven, Zigaretten und Orientteppiche. Die Lagerung von leicht brennbaren, hochgiftigen oder gar explosiven Stoffen war dagegen streng untersagt. Der geringste Teil der Flächen wurde von der HFLG bzw. ihrer Nachfolgerin, der heutigen HHLA (Hamburger Hafen und Logistik AG), selbst genutzt. Stattdessen wurden die Speicher an Quartiersleute vermietet, wie sich die Lagerhalter im Hamburger Hafen noch heute traditionsbewusst nennen. Die Quartiersleute übernahmen die sachgerechte Lagerung, Bemusterung und Veredelung – das Reinigen, Sortieren und Mischen – der Waren auf „fremde Rechnung“, d. h. im Auftrag der jeweiligen Eigentümer.

Transportiert wurde früher vor allem auf dem Wasserweg. Die Speicherstadt ist deshalb in das Kanalnetz des Hamburger Hafens eingebunden, und jeder Speicher verfügt sowohl an der Land- als auch an der Wasserseite über Luken zum Aufnehmen der Waren. Der vertikale Transport der Güter auf die Lagerböden erfolgte mit außen liegenden Winden, die bis Anfang der 1950er Jahre hydraulisch, d. h. mit Wasserdruck, später elektrisch betrieben wurden. Am Sandtorkai steht das ehemalige Kesselhaus der Speicherstadt, dass die Dampf-energie lieferte, mit der die Pumpen in der benachbarten Maschinenstation angetrieben wurden. Außerdem standen dort Generatoren, denn die Beleuchtung der Speicher war aus Brandschutzgründen bereits 1888 voll elektrifiziert. Nach dem Zweiten Weltkrieg verdrängten die Lastwagen jedoch immer stärker die Schuten, und seit dem Siegeszug des Containers in den 1970er und 1980er Jahren spielt der Wassertransport innerhalb des Hamburger Hafens auch allgemein keine Rolle mehr. Mit der Ewerführerei, wie das Schutenführergewerbe paradoxerweise genannt wird, ist ein Jahrhunderte alter Beruf in Hamburg ausgestorben, der zu seinen besten Zeiten fast 2.000 Männer im Hafen ernährt hat.

Krisenjahre und Neuorientierung

Ein Bild der Verwüstung: Blick über das Kehrwiederfleet auf die in den Bombenangriffen vollständig zerstörten Blöcke A, B und C. (6)

Die „große Zeit“ der Speicherstadt war schon 1914 vorbei. Während der Inflationsjahre nach dem Ersten Weltkrieg und während der Weltwirtschaftskrise gab es erhebliche Leerstände. Bei den Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg wurde die Speicherstadt zu über 50 Prozent zerstört. Der Wiederaufbau zog sich bis Anfang der 1960er Jahre hin. Die Blöcke A, B, C und J wurden überhaupt nicht wiederaufgebaut. Es gab offenbar keinen Zeitdruck, denn der Hafen erholte sich nur allmählich von den Kriegsfolgen und dem Verlust der traditionellen Hamburger Märkte durch die politische Teilung Europas. Erst 1960 wurde an der Elbe wieder etwas mehr umgeschlagen als 1928! Es ist das Verdienst des Architekten Werner Kallmorgen, dass die Speicher in enger Anlehnung an ihren ursprünglichen Zustand wiederhergestellt wurden. Nur dort, wo die Gebäude bis auf die Grundmauern zerstört waren, wurde völlig neu gebaut. Ein ausgeprägtes Traditionsbewusstsein mischte sich hier mit pragmatischen Erwägungen. Schließlich repräsentierten die ausgebrannten Gebäude, deren erhaltene Fassaden und Brandmauern noch auf den originalen Pfahlgründungen standen, auch einen wirtschaftlichen Wert.

Teppichhändler nutzten die von den Quartiersleuten aufgegebenen Flächen

Blick über das Wandrahmsfleet auf Block P. Umfangreiche Ausbauten ermöglichten den Nutzungswandel von Lager- zu Büroflächen unter Berücksichtigung denkmalpflegerischer Vorgaben. Hier residiert heute die Hamburg Port Authority (HPA). (7)

Ende der 1980er Jahre begann sich deutlich abzuzeichnen, dass die Speicherstadt keine wirtschaftliche Zukunft mehr als Lagerviertel hatte. Immer mehr Firmen verlagerten ihren Betrieb in moderne Lagerhallen und behielten ihren angestammten Speicher bestenfalls noch als Traditionsadresse. Dort wurden die meisten Flächen dann an Im- und Exportfirmen für Orientteppiche untervermietet, die sich immer stärker zum Hauptnutzer der Speicherstadt entwickelten, bis sie Anfang der 1990er Jahre schließlich nahezu 60 Prozent der vermietbaren Lagerflächen beanspruchten. Eine handvoll traditioneller Quartiersmannsbetriebe, die sich besonders heftig gegen den 1988 diskutierten Verkauf der Speicherstadt gewehrt hatten, hielten ihr noch bis Mitte der 1990er Jahre die Treue. Doch immer weniger Auftraggeber waren bereit, die hohen Personalkosten in den Speichern zu akzeptieren, so dass sich schließlich auch diese Unternehmen neue Domizile suchen mussten. Seit 1996 werden in der Speicherstadt außer Orientteppichen kaum noch Importgüter gelagert, Anfang 2003 wurde die Zollgrenze für die Entwicklung der HafenCity bis kurz vor die Elbbrücken verlegt und somit die Speicherstadt zu einem „ganz normalen“ Stadtteil.

Ein Gutes hatten die langjährigen Kontroversen um die Zukunft der Speicherstadt allerdings. Ihr Verkauf galt politisch nicht mehr als opportun, und das architektonische Kleinod blieb weiterhin in der Hand der Stadt Hamburg bzw. der stadteigenen Hamburger Hafen und Logistik AG und wurde nicht an ein anonymes Investorenkonsortium veräußert. Seit einigen Jahren werden die Speicher sehr sensibel und unter größtmöglicher Wahrung der originalen Bausubstanz und der charakteristischen Elemente – z. B. Balkendecken und Gusseisenfenster – in anspruchsvolle Dienstleistungsflächen umwandelt. Auch immer mehr Cafés und Restaurants siedeln sich hier an, so dass die Speicherstadt sukzessive in eine neue Funktion hineinwächst. Aus dem Lagerhausquartier wird ein Büroviertel, das mit seinem einzigartigen Ensemblecharakter und den vielfältigen Kultur- und Freizeitangeboten längst zu einem unverzichtbaren Bestandteil der touristischen Attraktionen der Hansestadt geworden ist. Die Generation von Franz Andreas Meyer hat eben nicht nur „just in time“ geplant. Sie verstand es auch, nachhaltig zu bauen. Die altehrwürdige Speicherstadt hat jetzt 120 Jahre auf dem backsteinernen Buckel – und sie hat offenbar mehr Zukunftschancen denn je.

Text: Ralf Lange, Gemälde: Ludwig Dettmann, Leihgabe der Freien und Hansestadt Hamburg an das Deutsche Zollmuseum, (1) Speicherstadtmuseum, (2) Die Großen Speicherbauten Hamburgs, Hrsg. Andreas Burmester 1890, Strumper & Co., (3) Foto: HFLG Denkschrift zum 25jährigen Jubiläum 1910, Strumper & Co. /G. Koppmann & Co., (4), (7) Thomas Hampel, (5), (6) HHLA, Gustav Werbeck

Quartier Special    
« Zurück zur Übersicht