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Speicherstadt Story

Vor 120 Jahren opferte Hamburg einen großen Teil seiner historischen Innenstadt einem Kaufmannstraum. Das Theater in der Speicherstadt erzählt in seinem aktuellen Projekt die Details dieser Geschichte.


Blick vom Kehrwieder über den Binnenhafen und die alte Brooksbrücke auf St. Katharinen (1)

Warum ziehen diese Bilder den Blick so in sich, in ihren imaginären Raum, in ihre Zeitlosigkeit hinein? Es sind nicht so sehr die abenteuerlich verrenkten Gebäude mit ihren wunderlich und wundervoll anmutenden Szenerien aus drangvoller Enge und verwinkelter Schiefheit.

Der wirkliche Grund, mehr und mehr hinein zu blicken, besteht darin, dass man aus den Bildern angeblickt wird. In einer so ruhigen, endgültig wirkenden Absichtslosigkeit, wie man sie von Porträts erwartet und doch viel eher von Gelegenheitsbildern erhält. Einzeln oder in Gruppen, in scharfer Kontur oder leicht verhuscht, stehen sie da, diese unbekannten Menschen, die einmal die Hamburger jener Straßen, Plätze und Fleete waren, auf deren Topografie wir uns heute bewegen. Wir können von Glück sagen, daß sie dem Fotografen zu Willen waren und still hielten, oder neugierig genug, um nicht vom Fenster zu verschwinden, als er daran ging, seinen großen, schweren Bildkasten aufzubauen. So können wir durch die Zeit hindurch Blicke tauschen, ohne voneinander zu wissen, und diese Brücke über die Wasser der Erinnerung ist vielleicht die schönste von allen in der Speicherstadt.

Beschaulichkeit: Das quirlige Straßenleben wird aus dem Fenster beobachtet. (2)

Dass die Speicherstadt nicht auf freier Wiese entstanden ist, sondern am Ort eines dicht bebauten Areals, und dassschätzungsweise 20.000 Menschen aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben wurden, diese Information ist mittlerweile in jedem Reiseführer zu lesen. Umso spannender ist der Versuch, sich jenen Menschen, die uns aus den Bildern anschauen, zu nähern, soweit dies überhaupt möglich ist. Denn die Geschichte der sogenannten kleinen Leute wird im allgemeinen nicht festgehalten, und auch hier ist sie nicht geschrieben worden. Oder doch? Das Theater begibt sich auf Spurensuche, in Archiven und entlegenen Quellen.

Die alte Kehrwieder-Brook-Wandrahm-Insel

Das Gebiet der heutigen Speicherstadt, die Kehrwieder-Brook-Wandrahm-Insel, war 1881 ein dicht bebautes Wohngebiet mit engen Gängevierteln. Dieses restlos verdichtete Quartier, im Kirchspiel St. Katharinen gelegen, galt als eine bevorzugte Wohngegend Hamburgischer Fernkaufleute, vor allem der Alte Wandrahm, das Viertel der Tuchhändler. Hier war seit dem 17. Jahrhundert anstelle der damals noch weithin üblichen schmalen Giebelhäuser eine Vielzahl palaisartiger Bürgerhäuser errichtet worden, deren zur Straße gelegene Traufseiten oftmals mit prachtvollen Barockfassaden geschmückt wurden. In den Adressverzeichnissen finden sich Namen wie Amsinck, Berenberg Gossler, Godeffroy und Lutteroth. Straßenbezeichnungen wie Holländischer Brook oder Gröninger Straße berichten noch heute von dem Zuzug niederländischer Bürger nach Hamburg. Kehrwieder und Brook dagegen gelten als das Viertel der kleinen Leute, die von und mit dem Hafen leben, Handwerker, Gewerbetreibende, Ewerführer, Schauerleute, Speichergehilfen, Tagelöhner. Den armen Schluckern wie den Millionären gemeinsam sind die nassen Füße. Bei Flut steht die Insel unter Wasser. Die Keller laufen voll, und wer dann kein Boot hat, ist von der Außenwelt abgeschnitten, oder tanzt im Salon, bis die Flut sich verzogen hat.

Die Holländische Reihe mit dem alten Wandrahmsfleet: eine von pittoresken Kaufmannshäusern gesäumte Gracht voller Schuten. (3)

Der Wandel, so war es ausgemacht, habe mit „thunlichster Beschleunigung“ zu erfolgen. An diese Vereinbarung mit dem Deutschen Reich hielt sich die Hansestadt Hamburg, die angesichts der brachialen Bismarck’schen Realpolitik nicht mehr frei war, sehr genau. Allein schon deshalb, um die 40 Millionen Reichsmark zu kassieren, die das Reich als Kostenbeitrag für das Projekt beisteuerte – je nach Baufortschritt. Über das Für und Wider entstand eine heftige öffentliche Debatte. Das stolze Hamburg, Reich der Bürgerkönige und Profiteure des Welthandels, wird an das Kaiserreich angeschlossen. Über 440 Grundstücke zwischen dem Kehrwieder und der Poggenmühle sind „expropriirt“, 19.251 Personen „dislocirt“. Entschädigungen werden in Einzelfällen – z. B. wegen Wegfall von Kundschaft – geleistet. Ein allgemeiner Aufstand bleibt aus. Nach Auskunft des damaligen Generalunternehmers Philipp Holzmann & Co. betrug die durchschnittliche Zahl der beschäftigten Arbeiter pro Tag etwa 2.000.

Die Erfolgsgeschichte der Speicherstadt

Am Ende wurde der Umbau der Kehrwieder-Brook-Wandrahm-Insel zur Speicherstadt eine Erfolgsgeschichte, die denjenigen Recht gab, die auf den Wandel gesetzt hatten. 120 Jahre später verfügt dieses Ensemble noch immer über eine stadträumliche Präsenz und ästhetische Eindrücklichkeit, die milieustiftend zwischen der Innenstadt und der HafenCity, dem größten Stadtentwicklungsprojekt unserer Tage, vermittelt. Der Impuls für kulturelle Inspirationen ist nach wie vor lebendig und zeigt sich an Produktionen wie dem „Hamburger Jedermann“, dieser theatralischen Studie über den Wandel von Werten und der „Seele der Stadt“. Gewidmet ist die „Speicherstadt Story“ jenen Menschen, die uns im Medium der Fotografie noch heute so direkt und unmittelbar anblicken, als hätten wir genauso gut an ihrer Stelle sein können.

Bei den Mühren: Die althamburger Idylle muss den Plänen für den Ausbau des Zollkanals und die Zollanschlussbauten weichen. (4)

Speicherstadt Story: Die Geschichte der Entstehung der Hamburger Speicherstadt. Unter Verwendung von Bürgerschafts-protokollen, Schriftverkehren des Senats, Privatbriefen, Liedern und zahlreichen Artikeln der zeitgenössischen Presse u. a.

Spielort: Internationales Maritimes Museum Hamburg,
Deck 10, Koreastraße 1, 20457 Hamburg
Vorstellungen: Freitag, den 31. Oktober 2008 und Samstag,
den 1. November 2008, jeweils 20 Uhr, Eintritt: 10,– Euro
Weitere Informationen: Tel. 040 . 30 09 23 00

Text: Michael Batz, Fotos: (1), (2), (4) Speicherstadtmuseum, (3) Vor dem Zollanschluss 1883, Strumper & Co.

Quartier Special    
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