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Erbengemeinschaft

Alle, die nicht so richtig daran glauben wollten, sind am 5. Juli eines Besseren belehrt worden: Hamburgs Speicherstadt ist zusammen mit Chilehaus und Kontorhausviertel von der UNESCO zum Welterbe ernannt worden


Das Wasserschloss in der Speicherstadt

Im Juli 2015 wurden die Speicherstadt und Teilbereiche des Kontorhausviertels mit dem Chilehaus von der UNESCO zum Welterbe erklärt. Das mag auf den ersten Blick etwas irritieren, denn die neogotischen Backsteinfronten der Speicher gehören unverkennbar in die Kaiserzeit. Die wuchtigen, mit Klinker verblendeten Bürohäuser im Kontorhausviertel wurden dagegen erst in den 1920er und 1930er Jahre realisiert. Auf den zweiten Blick werden aber auch Gemeinsamkeiten deutlich. Für beide Ensembles wurden große Teile der Altstadt abgerissen und die Wohnbevölkerung verdrängt, sodass die Hamburger Innenstadt bereits vor dem Zweiten Weltkrieg vom Dienstleistungssektor dominiert wurde und sich zu einer City entwickelte. Vor allem aber ergänzen sich beide Viertel in funktionaler Hinsicht: Auf der einen Seite konzentrieren sich die Lagerflächen für Importgüter, auf der anderen Seite die Kontore für die Außenhandelsfirmen. Diese Komplementarität hat auch die UNESCO als einen der zentralen Aspekte des Antrags gewürdigt. Mit den beiden Ensembles verdichten sich über 130 Jahre Hafen- und Architekturgeschichte einer Welthandelsmetropole auf international einzigartige Weise.

Kontorhausviertel

Chilehaus und Sprinkenhof als wohl prominenteste Gebäude im Kontorhausviertel tragen beide die Handschrift des Architekten Fritz Höger

Neben diesen allgemeinen Kriterien war die hohe städtebauliche, architektonische und konzeptionelle Qualität der beiden benachbarten Quartiere ausschlaggebend für die Verleihung des neuen Status als Welterbe. Die Kontorhäuser repräsentierten hinsichtlich der Skelettbauweise, der zentralen Erschließungskerne mit den Paternostern und der hierdurch bedingten flexiblen Grundrisse auch im internationalen Vergleich den fortschrittlichsten Stand, den die Bürohausarchitektur bis dahin erlangt hatte. Außerdem war das Viertel ein Experimentierfeld für die architektonischen Strömungen der Weimarer Republik: vom bizarren Klinkerexpressionismus der frühen 1920er Jahre bis hin zu den sachlichen Formen, die sich gegen Ende des Jahrzehnts behaupteten. Die Lagerhäuser waren so optimal auf die Bedürfnisse des Außenhandels zugeschnitten, dass sie über ein Jahrhundert lang ihren Zweck erfüllten. Die Speicherstadt bot überdies eine bildhafte Inszenierung in Form einer in sich geschlossenen Stadt aus Lagerhäusern, in deren hohem gestalterischem Anspruch sich die Bedeutung des Hamburger Außenhandels manifestierte.

Kaffeeboerse

Erhaltene Nebengebäude wie die Kaffeebörse verleihen der Speicherstadt bis heute eine hohe dokumentarische Dichte

Der Zollanschluss 1888 und der Bau der Speicherstadt

Die Errichtung der Speicherstadt war eine wichtige Vorleistung für die vollständige Eingliederung Hamburgs in das deutsche Zollgebiet, zu der sich Hamburg 1881 vertraglich verpflichtet hatte. Die zollfreie Lagerung der Importgüter sollte zukünftig nur noch in einem umgrenzten Freihafengebiet möglich sein, in dem es aber nur wenige Lagerhäuser gab, standen die meisten Speicher doch an den Fleeten der Innenstadt. Deshalb fiel die Entscheidung, die Bebauung der Brookinseln für den Bau der Freihafenspeicher zu opfern und dieses Areal dem Freihafen zuzuschlagen. In der Diskussion waren zwar auch alternative Standorte; der Senat hatte aber von Anfang an die Inselgruppe im Visier, weil diese verkehrsgünstig an der Nahtstelle zwischen den Häfen auf dem Großen Grasbrook und der südlichen Altstadt lag, wo sich die Kontore der Kaufleute konzentrierten.

Kesselhaus

Das Kesselhaus in der Speicherstadt

Pünktlich zum Zollanschluss am 15. Oktober 1888 wurde der erste Bauabschnitt der Speicherstadt in Betrieb genommen, der sich von der Kehrwiederspitze bis zum Kannengießerort erstreckte. Von 1891 bis 1896 wurden die Speicherblöcke am St. Annenufer und am Neuen Wandrahm gebaut. Ab der Jahrhundertwende folgten die Blöcke am Alten Wandrahm, am Holländischen Brook und am Brooktorkai, die 1912 weitgehend fertiggestellt waren. Nach dem Ersten Weltkrieg entstand nur noch die östliche Hälfte von Block W, sodass die Speicherstadt 1927 vollendet war. Der vierte Bauabschnitt, der auf der Ericusspitze geplant war, fiel den wirtschaftlichen Krisen der Weimarer Republik zum Opfer.

Die wesentlichen Architekten der Speicherstadt waren Franz Andreas Meyer, der als Oberingenieur der Stadt Hamburg für die Infrastruktur einschließlich der zahlreichen Brücken und der technischen Bauten verantwortlich zeichnete, sowie Georg Thielen, von dem die meisten Blöcke im ersten Bauabschnitt sowie Block P stammten. Meyer und Thielen hatten die Polytechnische Schule in Hannover absolviert, die damals durch die Lehrtätigkeit von Conrad Wilhelm Hase geprägt wurde. Hases Leitbild war die Backsteingotik, wobei es ihm aber nicht nur um den Stil ging, sondern vor allem auch um das Gestalten mit Backstein, für das das Mittelalter viele Anregungen bot. Als Thielen ausschied, wurde die Speicherstadt von Hanssen & Meerwein und dem Büro Gustav Schrader fertiggestellt, was aber keine Zäsur bedeutete, weil sich die Architekten weiterhin an die bewährten Gestaltungsmuster hielten.

Wandrahmsfleet

Die Bestimmung als Freihafenlager mit Wasserzugang ist noch deutlich ablesbar: hier das Wandrahmsfleet zwischen den Blöcken U und S

Das Kontorhausviertel

Während die Speicherstadt ihre Entstehung der Reichsgründung 1871 verdankt, war der Auslöser für den Bau des Kontorhausviertels eine Katastrophe. Im August 1892 brach in Hamburg eine Cholera-Epidemie aus, die rund 8.600 Todesopfer forderte. Am stärksten betroffen von der Seuche waren die Elendsquartiere der Innenstadt – die „Gängeviertel“, wie sie aufgrund der schmalen Innenhöfe und Gassen genannt wurden. Diese Quartiere waren Relikte des 17. und 18. Jahrhunderts und boten entsprechend unhygienische Wohnbedingungen. Nach der Epidemie beschloss der Senat deshalb, sie komplett abzureißen und städtebaulich neu zu ordnen. Während in den sanierten Gebieten der Neustadt, zum Beispiel in den Straßen um St. Michaelis, aber wieder Wohnungen entstanden, waren die Gebiete der Altstadt von vornherein für den Bau von Kontorhäusern vorgesehen.

Ab 1907 wurde das Gängeviertel zwischen der Steinstraße und der Spitalerstraße abgebrochen, um die Mönckebergstraße anzulegen (1908–1913). Ab 1913 wurden die ersten Häuser in dem Gängeviertel zwischen der Steinstraße und dem Meßberg niedergelegt; 1917 sollte das gesamte Gebiet abgeräumt sein. Der Erste Weltkrieg verzögerte aber die Maßnahmen, und weil in den Nachkriegsjahren Wohnungsnot herrschte, zog sich die Sanierung schließlich bis zum Beginn der 1930er Jahre hin. Weitere Erschwernisse bedeuteten die Geldentwertung, die bekanntlich 1923 in einer Hyperinflation kulminierte, und die Weltwirtschaftskrise. Mehrere Grundstücke an der Steinstraße wurden deshalb Mitte der 1930er Jahre entgegen der ursprünglichen Planung mit Wohnungen gefüllt, weil kein Bedarf an weiteren Bürohäusern herrschte.

Chilehaus

Das Grundstück, auf dem das Chilehaus errichtet wurde, bestand ursprünglich aus zwei Parzellen, die durch die Fischertwiete getrennt wurden. Fritz Höger plante sie als ein einziges Gebäude, indem er die schmale Gasse überbaute und so den charakteristischen Hof schuf

Der Nominierungsantrag, der bei der UNESCO eingereicht wurde, umfasste jedoch zunächst nur die vier signifikantesten Gebäude des Viertels, nämlich das berühmte Chilehaus von Fritz Höger (1922–1924), das mit seiner dynamischen dreieckigen Spitze an einen Schiffsbug erinnert, und drei weitere Kontorhäuser, die das Chilehaus wie Trabanten umgeben: den Meßberghof von Hans und Oskar Gerson (1922–1924), den Mohlenhof von Klophaus, Schoch, zu Putlitz (1927/28) und den in drei Abschnitten realisierten Sprinkenhof (1927–1943), der zunächst ein Projekt von Höger und den Brüdern Gerson war, aber dann von Höger allein vollendet wurde. Diese Auswahl ließ sich dadurch legitimieren, dass diese Gebäude ein aufeinander abgestimmtes Ensemble bilden. Es wurde damals gezielt darauf hingewirkt, dass das Chilehaus dominiert und sich die anderen drei Gebäude gestalterisch unterordnen. Auf Anraten der UNESCO wurde der Bereich aber ausgeweitet, sodass nun auch noch weitere Gebäude wie die neobarocke Polizeiwache von Albert Erbe (1906–1908), die direkt an das Chilehaus grenzt, zum Welterbe zählen.

Authentizität und Integrität – zwei zentrale Kriterien

Während das Kontorhausviertel bei den Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg nur relativ geringe Schäden erlitt und somit weitgehend authentisch überliefert ist, wurde die Speicherstadt ungleich schwerer getroffen. Für den Wiederaufbau zeichnete Werner Kallmorgen verantwortlich, der bestrebt war, von der historischen Speicherarchitektur so viel wie möglich wiederherzustellen, wobei er auch vor der Rekonstruktion der Giebel, Zinnen und Ziegelornamente nicht zurückschreckte. Auf diese Weise konnte der einzigartige Ensemblecharakter des Viertels wiedergewonnen werden, zumal sich auch die Neubauten, die Kallmorgen konsequent modern gestaltete, problemlos in den historischen Bestand einfügen.

Speicherstadt

Die östliche Speicherstadt heute: Der Architekt Werner Kallmorgen konnte den Ensemblecharakter nach den Kriegszerstörungen wiederherstellen, zumal sich seine modernen Neubauten problemlos in den erhaltenen Bestand einfügen

Die besondere Qualität dieser Maßnahmen hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Speicherstadt trotz der Kriegsschäden die Welterbe-Kriterien der Integrität und Authentizität erfüllt. Ein Glücksfall war es wohl auch, dass die Speicher bis weit in die 1990er Jahre hinein intensiv genutzt wurden, wenn auch zum Schluss nur noch für den Orientteppich-Handel, und somit viele technische Details erhalten sind, die ihre ursprüngliche Nutzung veranschaulichen. Und auch die vielen Nebengebäude wie das Kesselhaus, die Kaffeebörse oder die Bauten für die Zollabfertigung verleihen dem Quartier eine hohe dokumentarische Dichte. Das Kontorhausviertel, das immer noch als Bürostandort begehrt ist, hat dagegen seine Funktion bewahrt. Aber auch die Speicherstadt geht mit besten Chancen in die Zukunft: Ein Großteil der Flächen ist bereits denkmalgerecht in Büros umgewandelt, und das sehr starke touristische Interesse wird durch den Welterbe-Status sicherlich noch weiter steigen.

Text: Ralf Lange, Fotos: Thomas Hampel, Heinz-Joachim Hettchen

 

Welterbe

WELTERBE-TIPPS

QUARTIER stellt drei lehrreiche und unterhaltsame Quellen vor, die bei einem Rundgang durchs Quartier unverzichtbar sind

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Speicherstadt und HafenCity

Der Quartierskalender für das Jahr 2016

Vom Kaiserhöft zur Ericusspitze, vom Zollkanal zum Strandkai: Der Quartiers-Kalender zeigt außergewöhnliche Ein- und Ausblicke von Speicherstadt und HafenCity. Neben einzigartigen Perspektiven dokumentiert der Kalender auch den schrittweisen Wandel der ehemaligen Hafenareale, der Hamburgs Zentrum seit Jahren schrittweise an die Elbe verlagert.

Nautik Historie Verlag
ELBE&FLUT Edition
24,90 Euro

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Das Hamburger Kontorhaus

Architektur. Geschichte. Denkmal.

Vor dem Zweiten Weltkrieg musste man schon nach London oder in die USA schauen, um vergleichbar viele architektonisch hochwertige und konzeptionell schlüssige Bürohäuser an einem Ort zu finden. Der reich bebilderte Band würdigt umfassend Hamburgs herausragende Kontorhausarchitektur.

Dölling und Galitz Verlag
Hardcover, 288 Seiten
520 Abbildungen
39,90 Euro

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125 Jahre Speicherstadt

Vom Freihafenlager zum Scharnier zwischen City und HafenCity

Zwar hat die Speicherstadt ihre ursprüngliche Bestimmung längst verloren, ist aber zu einem der attraktivsten Orte für Touristik, Dienstleistung und Kultur in Hamburg geworden. Ihre erstaunliche Erfolgsgeschichte wird von einem dem Quartier seit Jahren verbundenen Team von Autoren und Fotografen beschrieben und ins Bild gesetzt.

ELBE&FLUT Edition / Junius Verlag
Broschur, 192 Seiten
Deutsch / Englisch
19,90 Euro

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IG KulturQuartier

IG Kulturquartier Speicherstadt und HafenCity

Im Frühjahr 2015 hat sich der Zusammenschluss der zehn Museen und Ausstellungen in der Speicherstadt und HafenCity als „IG Kulturquartier Speicherstadt und HafenCity“ neu aufgestellt. Beteiligt sind die CAP SAN DIEGO, das Miniatur Wunderland, das Hamburg Dungeon, das Speicherstadtmuseum, das Gewürzmuseum Spicy’s, das HafenCity InfoCenter Kesselhaus mit dem Osaka 9 NachhaltigkeitsPavillon, das Deutsche Zollmuseum, das Internationale Maritime Museum Hamburg, das Automuseum Prototyp und der Dialog im Dunkeln – Dialog im Stillen. Bereits seit vielen Jahren wird das Ausschilderungssystem aus elf fest installierten Orientierungstafeln in der Speicherstadt gemeinsam betrieben und regelmäßig aktualisiert. 

Währenddessen hat sich das maritime KulturQuartier für den Tourismus in der Hansestadt zu einer der bedeutendsten Attraktionen entwickelt – deren Strahlkraft mit dem Eintrag von Speicherstadt und Kontorhausviertel in die UNESCO-Welterbeliste nicht geringer geworden ist. Anlässlich der Welterbe-Nominierung wurde ein Film produziert, der die Speicherstadt von ihrer schönsten Seite zeigt – Fleete, Brücken, beeindruckende Backsteinfassaden und pittoreske Speicherblocks zwischen der Hamburger Innenstadt, dem Kontorhausviertel und der HafenCity sind die Hauptdarsteller – und auf der facebook-Seite des KulturQuartiers zu sehen ist.

www.kulturquartier-hamburg.de, www.facebook.com/igkulturquartier

Quartier 31, September–November 2015 , Rubrik:    
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