Tatort: Quartier
Menschen werden in Fleete gestoßen, überfallen oder verschwinden spurlos. In Fernsehkrimis sind Speicherstadt und HafenCity nicht gerade ein friedliches Pflaster. Zum Glück gibt es Notruf Hafenkante. Das Großstadtrevier ist gleich um die Ecke, und auch Tatort-Kommissar Cenk Batu ermittelt hier.
„In der Schweiz“, schlägt Tatort-Kommissar Cenk Batu vor, als ihn sein Chef fragt, wo sie sich treffen wollen. Und damit ist nicht das reale Alpenland gemeint, sondern dessen kleine Version: Ihre brisanten Informationen tauschen die beiden am Abschnitt „Schweiz“ der größten Modelleisenbahnanlage der Welt aus, dem Miniaturwunderland in der Speicherstadt.
Von allen einsamen Wölfen ist Cenk Batu der einsamste. Seit 2008 durchstreift der verdeckte Ermittler Hamburg für Deutschlands älteste Krimiserie. Der charismatische Mehmet Kurtulus spielt Batu, den Solisten, den Profi, der immer auf Distanz bedacht ist. Seine melancholische Ausstrahlung erinnert eher an die Kommissare des französischen Krimis, wie sie etwa Lino Ventura verkörpert hat, als an seine Tatort-Kollegen. Zu diesem coolen Kommissar passt auch der unterkühlte Blick auf Hamburg, den die Glasfassaden der HafenCity im ersten Batu-Krimi „Auf der Sonnenseite“ (2008) unterstreichen.
Fernsehmacher reizt das einzigartige Zusammenspiel von Baukunst und Wasser.
Im jüngsten Film, „Vergissmeinnicht“ von 2010, trifft der Einzelgänger eine Frau (Desirée Nosbusch). Bei der Beisetzung hat er sie kennengelernt, die uneheliche Tochter des toten Firmenchefs, und auf der Baakenbrücke in der HafenCity kommen sie sich näher. Sie scheint die einzige zu sein, die ihren Vater verstanden hat – seine Sehnsucht nach dem Meer – und die deshalb geweihte Friedhofserde von der Brücke ins Fleet wirft. „Ist zwar nur ein trüber Fluss…“ Aber Batu ergänzt: „Der mündet ins Meer.“ Und dann blickt Mehmet Kurtulus Desirée Nosbusch hinterher und seine dunklen Augen strahlen Interesse aus, wenn nicht mehr. Im wahren Leben sind die beiden verheiratet, was die Intensität einiger Szenen dieses Krimis erklären könnte. Batu, als Kommissar für Deutschlands erfolgreichste Krimireihe tätig, ist bei weitem nicht der einzige Fernsehermittler, der im Quartier unterwegs ist. Tatsächlich existiert kaum eine Krimiserie aus der Hansestadt, bei der Speicherstadt und HafenCity nicht vorkommen: ZDF-Kommissarin Bella Block dreht 2001 am Wandrahmsfleet und 2005 am Kaispeicher A. Ihr Kollege Stubbe radelt 2004 vor der Backsteinkulisse und klärt 2006 den Mord an einer Caféhausbesitzerin auf, deren Leiche in der HafenCity gefunden wurde. Schon zweimal hat Jenny Berlin in Einsatz in Hamburg, ebenfalls ein ZDF-Samstagskrimi, auf den spektakulären Magellan-Terrassen ermittelt. Die Terrassen-Anlage mit dem südlichen Flair ist ein besonders beliebter Krimi-Drehort. In der Speicherstadt wiederum gastierten mehrfach die starken Frauen des RTL-Erfolgs Doppelter Einsatz (1994–2007). Und die Kultserie Großstadtrevier, die seit 1986 im Vorabendprogramm des Ersten läuft, spielt regelmäßig in Speicherstadt und HafenCity.
Was zieht die Fernsehmacher ins Quartier? Für Matthias Basting ist die Antwort klar. „Der Reiz der Speicherstadt als Motiv für Dreharbeiten liegt in erster Linie in dem historischen Ambiente und in der Kombination von Architektur und Wasser, die eine einzigartige Beziehung eingegangen sind“, sagt der 45-Jährige. Basting ist im Bereich Immobilienvermietung der HHLA unter anderem für Film und Foto zuständig und damit einer der wichtigsten Ansprechpartner für Dreharbeiten in der Speicherstadt. „Wir verstehen die Produktionen als ausgezeichnete Möglichkeit zur Werbung für die Speicherstadt und für unsere Entwicklungsarbeit.“ Ein Gewinn für beide Seiten also. Durchschnittlich zehn Drehanfragen im Jahr erhält Basting, die speziell auf die Speicherstadt zugeschnitten sind. Die originären Speicherstadt-Krimis sind derzeit die Pfefferkörner und Notruf Hafenkante, denn deren Ermittler haben ihr Hauptquartier in der Stadt der Ladeluken und Windenerker. Schon seit 1999 hilft die Immobilienvermietung des Hamburger Hafenbetreibers dem Produzenten Studio Hamburg bei der Suche nach attraktiven Drehorten für die Pfefferkörner. Die fünf Junior-Detektive, die ihren Namen einem Gewürzlager verdanken, machen Diamanten-Schmugglern, Neo-Nazis, Tabletten-Dealern und anderen Bösewichten das Leben schwer. Wichtigster Drehort für eine der erfolgreichsten Kinderserien des deutschen Fernsehens ist heute das Wasserschlösschen in der Dienerreihe.
Im ZDF läuft seit 2007 die Polizeiserie Notruf Hafenkante, die unter anderem auf der Kehrwiederinsel spielt. In dem Vorabendkrimi arbeiten Streifenpolizisten mit Notärzten Hand in Hand. Das Revier der Wasserschutzpolizei am Brooktor diente als Außenkulisse für das fiktive Polizeikommissariat 21. Immer wieder fängt die Kamera malerische Speicherstadtmomente ein. Etwa den Blick auf die Polizeiwache durch das Kehrwiederfleet oder die Kräne an der Südseite von Kaispeicher A bei Sonnenuntergang. Notruf Hafenkante wurde zunächst als Abklatsch des Großstadtreviers belächelt. Inzwischen ist die Polizeiserie mit durchschnittlich 3,6 Millionen Zuschauern eine der beliebtesten Produktionen im Vorabendprogramm.
Vor der Illumination von Michael Batz war die nächtliche Speicherstadt unheimlicher als ein Friedhof.
Unvergessen ist die Reihe Schwarz Rot Gold, in der das Backstein-Ambiente eine Hauptrolle spielte. Zwischen 1982 und 1996 lief der Wirtschaftskrimi im Ersten. Grimme-Preis-Träger Dieter Meichsner erzählt kurzweilig und realistisch von Steuerhinterziehung in der Mineralölbranche oder geschmuggeltem Schafskäse aus Italien. Das Büro von Uwe Friedrichsen als Zollfahnder Zaluskowski befindet sich im alten Zollhaus „Kornhausbrücke“. Und ein anderer Ort erlangt Kult-Status: Immer wieder sieht der Zuschauer die Zollbeamten durch die gläserne Brücke über den Wandrahmsfleet gehen, die heute gar nicht mehr existiert. Anfang des Jahrtausends ist dieser legendäre Fernsehort der denkmalgerechten Restaurierung der HHLA-Unternehmenszentrale zum Opfer gefallen. Eine weitere Primetime-Perle ist „Tanz auf dem Seil“, aus der Reihe Die Männer vom K 3 (NDR, 1993). Eines Nachts wird ein Geldverleiher von der Kannengießerortbrücke ins Wandrahmsfleet gestoßen – und überlebt. Der Film gilt als bester der Reihe, was vor allem an den skurrilen Figuren liegt, die hier aufmarschieren: der herrlich schmierige Geldverleiher, den Klimbim-Veteran Klaus Dahlen spielt. Richy Müller als koksender, stotternder Möchtegern-Musikproduzent mit weißem Angeberschlitten. Oder Udo Kier, der am Rande des Wahnsinns agiert, als in den Ruin getriebener Kioskbesitzer mit amputierten Beinen.
Und schon lange vor Cenk Batu haben Tatort-Kommissare im Quartier ermittelt. Im dritten Tatort überhaupt, „Kressin und der tote Mann im Fleet“ (WDR, 1971), geht der Kölner Zollfahnder nach einer Mittelmeerkreuzfahrt in Hamburg an Land und gerät in einen Rauschgiftfall. An der Zollstation Brooksbrücke tricksen Drogenschmuggler nachts die Zollbeamten aus. Später fährt Tatort-Playboy Kressin mit seinen zwei Gespielinnen im roten Cabrio über die Kornhausbrücke. Und ein verdächtiger Reiseleiter wird nachts vom höchsten Boden eines Lagers in Block V ins Holländischbrook-Fleet gestoßen. Vorher entspinnt sich folgender Dialog zwischen Opfer und Mörder: „Sehr komisch, das gibt’s auf der ganzen Welt nicht noch mal. Ein Großstadtzentrum und so tot wie…“ – „Ein Friedhof, nicht wahr?“ – „Weiß nicht, hier kommt’s mir unheimlicher vor…“ Die Speicherstadt bei Nacht – das ist vor Michael Batz’ Illumination und dem Fall der Zollgrenze noch finsterstes Grenzland, Zollausland, ein fremder Ort hinter drei Meter hohem Maschendraht.
Kressins Ausflug nach Hamburg enthielt übrigens eine Szene, die Moralwächter aufschreien ließ und die sich als die Kressin-Szene im kollektiven Fernsehgedächtnis festgesetzt hat. Im Hotelbett lümmelte sich Sieghardt Rupp als Macho mit öligem Haar gleich mit zwei verheirateten Frauen (Eva Renzi und Sabine Sinjen). Gewiss – alle Beteiligten waren bekleidet, doch das Etikett „Lümmel vom Zoll“ wurde Kressin nicht mehr los. Den Quoten schadete es nicht. In „Traumhaus“ von 1999, einem Tatort aus der Spätphase des beliebtesten Ermittler-Teams im Norden, entspannen Manfred Krug und Charles Brauer als Stoever und Brockmüller beim Angeln – direkt vor dem Hanseatic Trade Center. Brockmüller spielt Mundharmonika, Stoever auf dem Akkordeon, und die beiden stimmen den melancholischen Jazz-Titel „As time goes by“ aus Casablanca an. Und bestimmt soll die berühmte Zeile aus dem Refrain auch das Publikum trösten: „The fundamental things apply/As time goes by.“ Etwa: Die grundlegenden Dinge haben Bestand, auch wenn die Zeit vergeht. In der Tat ist dem Fernsehzuschauer der Tatort aus Hamburg geblieben, nur dieses schrullige Ermittler-Paar eben nicht.
Ihr Nachfolger, Robert Atzorn als Jan Casstorff, kommt 2002 in die HafenCity. An der Stelle, wo das Science-Center entstehen soll, befindet sich im Tatort „Der Passagier“ das Rollfeld eines Flughafens. Noch auf der Startbahn wird ein Flugzeug von Gangstern gekapert, in dem sich auch Casstorffs Sohn befindet.
Lokalkolorit soll die HafenCity diesem Krimi nicht verleihen. Es ist sogar völlig unmöglich, den Originaldrehort im fertigen Film zu erkennen – die Aufnahmen wurden am Computer bearbeitet und sogar das Flugzeug haben Animationsspezialisten ins Bild gezaubert. Die Vorbereitungen zu „Der Passagier“ fallen nämlich in die Zeit kurz nach dem 11. September. Plötzlich ist nicht mehr daran zu denken, eine Schießerei auf einem real existierenden Flughafen zu drehen. Filmarchitekten müssen Flugzeughalle und -café im CCH und den Messehallen nachbauen. Für die Rollbahn findet sich ein Firmenparkplatz, der zum Gelände des Überseequartiers in der HafenCity gehört. Am Ende von „Der Passagier“ stürmt ein GSG 9-Kommando die Maschine – immerhin: Die Bundespolizisten sind echt. Ansonsten sind es die noch unverbrauchten Hamburg-Ansichten und architektonischen Highlights, die die Filmteams in die HafenCity ziehen, wie beispielsweise die Harbour Hall am Sandtorkai, wo 2009 eine Folge des ZDF-Krimis „Nachtschicht“ gedreht worden ist. Der aktuelle Hamburger Tatort-Kommissar Batu wohnt nicht in der HafenCity, obwohl dies oft zu lesen war. Drehort in „Vergissmeinnicht“ ist eine Luxuswohnung an der Admiralitätsstraße. Architektur und Fleetlage erinnern tatsächlich an die HafenCity. Nur das Parkhaus, auf das Batu durch seine Panoramafenster blickt, stammt aus einer Zeit, als Hamburgs neuer Stadtteil an der Elbe noch gar nicht geplant war.
Text: Bettina Mertl-Eversmeier, Fotos: (1) NDR/Georges Pauly, (2) ZDF/NETWORK MOVIE/Christine Schroeder, (3) Deutsche Kinemathek, (4) NDR/Thorsten Jander