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Blätter, die die Welt bedeuten

„Das Sinnliche ist das Herz unseres Geschäfts“, sagt Dietmar Scheffler. Der Geschäftsführer von Hälssen & Lyon, einem der renommiertesten Teehäuser Europas, spricht über Tradition, Innovation und Nachhaltigkeit.


Geschäftsführer Dietmar Scheffler im neuen Hälssen & Lyon Showroom (1)

Herr Scheffler, wie fühlt man sich als ältester Mieter der Speicherstadt?
(Lacht) Rein rational gesehen würde ein kompletter Umzug in unsere Produktionsstätte in Allermöhe heute natürlich mehr Sinn machen. Wir hätten häufig kürzere Abstimmungswege und müssten keine Muster mehr hin und her schicken. Aber immer, wenn wir hier aus unserem Fenster auf die Backsteingebäude gucken, werden wir an die Tradition erinnert, die mit diesem Standort verbunden ist und die auch das Unternehmen charakterisiert. Denn wir streben langfristige Beziehungen mit unseren Kunden und Geschäftspartnern an, die über Jahrzehnte gelebt werden. Wir sind weder auf Einmal-Deals noch auf kurzfristige Erfolge aus, sondern haben einen längeren Horizont. Wir wollen Nachhaltigkeit.

Wir gönnen uns eine angenehme Langsam- und Langfristigkeit,
die dem allgemeinen Trend zuwider läuft.

Also ist der Standort Speicherstadt auch Ausdruck der Unternehmensphilosophie?
Ja, so kann man es sagen. In diesem Punkt denken wir nicht streng ökonomisch. Wir leisten uns den „Luxus Speicherstadt“ bewusst. Zum einen sehen wir darin einen weichen Faktor, der z. B. bei unseren Kunden aus den USA immer wieder für Begeisterung sorgt. Zum anderen möchten wir einen Kontrapunkt zur Schnelllebigkeit unserer Zeit setzen. Wir gönnen uns eine angenehme Langsam- und Langfristigkeit, die dem allgemeinen Trend zuwider läuft. Das zeichnet übrigens auch den Umgang mit unserem Produkt aus: Eine Teepflanze wird nämlich auch erst 4 Jahre, nachdem sie gepflanzt wurde, zum ersten Mal bepflückt. Zeit, Geduld und langer Atem gehören bei uns zum Geschäft.

Kaffee ist hier im Quartier quasi omnipräsent – welche Bedeutung hatte und hat Tee für die Speicherstadt?
Das Thema Tee in der Speicherstadt hatte in der Vergangenheit eine sehr große Bedeutung und hat sie nach wie vor. Heute ist Hamburg das Tor Europas zur Teewelt. Die Hansestadt ist eine wichtige Drehscheibe des internationalen Teehandels. Ca. 60 bis 70 Prozent aller europaweit gehandelten Tees werden laut Deutschem Teeverband über die Hafenstadt Hamburg umgeschlagen.

Die Speicherstadt war im 20. Jahrhundert definitv die Keimzelle für die heutige Marktposition der Hansestadt. So hat sich damals die Mehrzahl der Teehändler, die international tätig waren, hier angesiedelt. Grund dafür war vor allem die Freihandelszone sowie die Tatsache der engen Zusammenarbeit zwischen den Wettbewerbern.

Seit über einem Jahrhundert dieselbe Anschrift: Hälssen & Lyon in der Speicherstadt. (2)

Und warum haben sich die Firmengründer Alfred Moritz Lyon und Gustav Vincent Hälssen 1887 für einen Umzug in den Pickhuben entschieden?
Als die Speicherstadt entstand, war sie genauso futuristisch wie heute die HafenCity. Für ein Teehandelshaus mit Visionen war es damals ein mutiger, aber auch ein sehr bewusster und folgerichtiger Schritt, bereits in einem sehr frühen Stadium in die Speicherstadt zu ziehen. Das Konzept des größten zusammenhängenden Lagerhauskomplexes der Welt wurde als Möglichkeit gesehen, am Nabel der Handelswelt zu sein und von dieser Situation für das eigene Wachstum zu profitieren.

Besonders das Konzept des Freihafens brachte uns als international tätigem Handelshaus dann auch viele Vorteile – spätestens seit der Einführung der Teesteuer im Jahr 1953. Denn von da ab musste auf jedes Kilo Tee, das Sie in Ihr Lager legten, 4,15 Mark Steuern gezahlt werden. Das war teilweise mehr als der Teepreis selbst, also ein erheblicher Kostenfaktor. Aber so lange Sie im Zollausland, also innerhalb des Freihafens lagerten, hatten Sie eben diese Steuer nicht zu entrichten. So brachte uns der Firmensitz in der Speicherstadt lange Zeit auch einen durchaus interessanten wirtschaftlichen Nutzen. Im Jahr 1993 wurde die Teesteuer dann abgeschafft. Von da ab war es für ein Teehandelshaus unter finanziellen Gesichtspunkten nicht mehr so entscheidend, hier zu residieren.

Könnte das auch ein Grund dafür sein, warum viele ihrer Wettbewerber die Speicherstadt wieder verlassen haben?
Ja, ein anderer ist aber auch, dass viele Wettbewerber komplett vom Markt verschwunden sind, weil sie nicht die Flexibilität hatten, ihr traditionelles Geschäft zu modifizieren und sich veränderten Umständen anzupassen. Gerade im Teehandel hat sich in den letzten zehn Jahren mit Sicherheit mehr verändert als in den 100 Jahren davor. Der Innovationsdruck ist z. B. enorm gestiegen und hier geht es auch darum, kurzfristige Hypes von nachhaltigen Trends zu unterscheiden. Wer sich nicht verändert hat, ist heute nicht mehr da.

Dieser Satz klingt aus Ihrem Mund zunächst paradox, wo Sie doch vorher so auf Tradition gepocht haben…
Tradition ist uns wichtig, aber das darf natürlich auch nicht überstrapaziert werden. Unser Anspruch ist es, immer wieder neue Highlights zu setzen. Hälssen & Lyon will nicht die x-te aromatisierte Kräutertee-Variante auf den Markt bringen, sondern hat den Anspruch, Ideen zu entwickeln, die das Potenzial haben, Märkte zu schaffen. Deshalb reisen unsere Vertriebsleute in der ganzen Welt herum und bringen verschiedenste Eindrücke mit, die sie dann zusammen mit unseren Produktentwicklern zu zukunftsträchtigen Trends ausbauen. Und daraus wird für den Kunden dann ein individuelles Konzept erstellt, was für ihn in seinem Marktsegment und seinem Land einen echten Vorsprung bedeutet.

Tee ist ein besondereres Getränk – die Zubereitung und der Genuß erfordern und befördern die Muße
gleichermaßen. (3)

Noch einmal kurz zurück zur Tradition: Ihre Adresse in der Speicherstadt hat sich seit 121 Jahren nicht geändert?
Wir haben seit über einem Jahrhundert immer dieselbe Anschrift: Pickhuben 9. Und auch unser Probenzimmer hat sich immer dort befunden, wo es auch heute noch ist. Bis 1981 haben wir die Räumlichkeiten bis unters Dach noch dazu benutzt, den Tee hier zu lagern. Das Gebäude konnte von zwei Seiten beliefert werden – entweder durch ein Fahrzeug von der Straßenseite oder mit der Schute von der Wasserseite des Speichers. Es war sehr schön anzusehen, wenn dann drei schwere Teekisten in einem Bündel mit der Seilwinde in den obersten Stock gehieft wurden.

Damals wurden Mischungen auch noch erstellt, indem der Tee im obersten Stock ausgekippt wurde, die verschiedenen Provenienzen durch ein Loch auf den nächst tieferen Boden fielen, dann auf einen Kegel trafen und sich so mischten. Am Ende wurde alles noch einmal durchgeschaufelt und die neue Blend war fertig. Dieses Mischen über Kegel findet sich heute übrigens auch noch in professionellen Teemaschinen, um eine möglichst homogene Mischung zu erzielen.

Was zeichnet die Teebranche für Sie gegenüber anderen Wirtschaftszweigen aus?
Das Sinnliche ist das Herz unseres Geschäfts. Alle, die in dieser Branche tätig sind, praktizieren mit sehr viel Liebe und Hingabe die Beschäftigung mit dem immer wieder andersartigen Naturprodukt Tee. Die Verkostungen erfolgen z. B. nicht nur durchs Probieren, also durchs Schmecken, sondern auch mit der Nase, mit den Augen und durchs Anfassen – diese Sinnlichkeit des Produkts ist ein unausgesprochener gemeinsamer Nenner der Tee-Community.

Wodurch unterscheidet sich Hälssen & Lyon von seinen Wettbewerbern?
Gemäß unserem Slogan „The world of tea under one roof“ ist es unser Ziel, alles, was Tee angeht, aus einer Hand anzubieten – von Schwarztee über Grüntee bis zu Kräuter- und Früchtetee. Darüber hinaus ist es unser Anspruch, Innovator der Teeindustrie zu sein. Das kann man nur leisten, wenn man in allen verschiedenen Feldern erhebliches Know-how hat. Deshalb beschäftigen wir eine hohe Anzahl von Spezialisten, die z. B. auf Teeextrakte, Instant- oder entkoffeinierte Tees spezialisiert sind. Dieses „one-stop-shop“-Konzept ist ein eindeutiges Alleinstellungsmerkmal und hat für den Kunden den Nutzen, dass er nur einen Ansprechpartner für viele Produkte hat.

Was sind Ihre wichtigsten Innovationen der letzten Jahre?
Der Name Hälssen & Lyon steht wie kein zweiter für Innovationen in der Tee­industrie. So waren wir 1935 z. B. weltweit die ersten, die entkoffeinierten Tee entwickelt haben. Die Instanttees wurden Ende der 50er Jahre von uns erfunden. Darüber hinaus lässt sich auch die Popularität aromatisierter Sorten zu einem Gutteil auf die Erfindungen und die Durchsetzungskraft der Firmeninhaber Olav und Horst-Jürgen Ellerbrock zurückführen. Vor zwei Jahren haben wir dann Tea-to-go auf den Markt gebracht: Ein patentiertes Deckelsystem, das auf fast jeden 300 ml Pappbecher passt. Mit diesem Patent bedienen wir als erster den Trend nach Convenience und Tee-Genuss für unterwegs – ähnlich dem Coffee-to-go. Zu dem speziell entwickelten Doppelkammerdeckel gehört ein Teebeutel mit besonders hochwertigen Blatttees. Wenn der Tee ausreichend gezogen ist, lässt sich der Beutel in das Deckelsystem hinein ziehen und man muss sich keine Gedanken über die Entsorgung des Beutels machen.

Für dieses Konzept sind wir sowohl mit dem deutschen wie auch mit dem Weltverpackungspreis ausgezeichnet worden und konnten in diesem Jahr ebenfalls den Coffee Innovations Award gewinnen. Eine weitere bahnbrechende Neuheit sind Portionskapseln mit Qualitätstee in flüssiger Form, die komplett ohne Zusätze auskommen. Hauptkunden sind Szene-Bars und Top-Köche, die die Kapseln als Ingredienz für Cocktails, Champagner oder feine Speisen verwenden können.

Pickhuben 9: Hier werden die Tee-Trends von morgen entwickelt. (4)


Wohin geht der Trend im Teebereich insgesamt?

Megatrends, die das Thema Tee im Moment vorantreiben, sind Wellness, gesunde Ernährung und Functional Food. Der Wunsch nach Functional Ingredients, also Zutaten mit einem gesunden Zusatznutzen, führt zur Zeit dazu, dass z. B. Grüntee-Extrakte verschiedenen anderen Getränken beigefügt werden, um durch deren positive Eigenschaften das gesamte Produkt aufzuwerten.

Natürlich ist auch Convenience ein großer Trend: Den starken Verbraucherwunsch nach Tee, der „ready to drink“ ist, bedienen wir u. a. durch unsere beiden bereits genannten Innovationen Tea-to-go und Teekapseln. Darüber hinaus beobachten wir, dass der Luxussektor Interesse für Tee entwickelt: gefragt sind schöne Verpackungen und teure Spezialitäten, z. B. handvernähte Teerosen, die einen schönen Anblick bieten, wenn sich die Teeblätter beim Aufbrühen regelrecht entfalten – da spielt natürlich dann auch wieder ganz stark der Aspekt des Sinnlichen hinein.

Wie stehen Sie als traditioneller Mieter der Speicherstadt der HafenCity gegenüber?
Wir stehen der HafenCity sehr positiv gegenüber, weil Entwicklung für uns grundsätzlich etwas sehr Positives ist. Die HafenCity ist noch dazu ein faszinierendes Großprojekt mit vielen Visionen. Sie wird eine Attraktion besonders für den Tourismus darstellen. Man sieht ja heute schon, wie anziehend die ganze Region für Besucher geworden ist. Die Atmosphäre hat sich bereits sehr stark geändert: Früher ging es hier langsam und rustikal zu, heute haben sich der Charakter und das Tempo doch gewandelt. Für uns und unsere Mitarbeiter hat das u. a. den Vorteil, dass man jetzt einige nette Restaurants direkt vor der Tür hat.

 



DAS UNTERNEHMEN HÄLSSEN & LYON
Hälssen & Lyon ist eines der größten Teehäuser in Europa. Das Basisgeschäft des Hamburger Traditionsunternehmens besteht in der Beschaffung von Rohwaren. Besonders bekannt ist Hälssen & Lyon für seine Kompetenz im Blattteebereich, also für äußerst hochwertige Qualitätsprodukte. Darüber hinaus werden zahlreiche Zusatzdienstleistungen für die Kunden angeboten, von der Konzept- und Produktentwicklung bis hin zu Analyse und Beratung bei lebensmittelrechtlichen Fragen. Abnehmer sind nicht nur klassische Teepacker oder Markenartikler, sondern auch Ketten von Teefachgeschäften sowie die gesamte Getränkeindustrie.
Seit jeher zeichnet sich Hälssen & Lyon dadurch aus, dass rund 70 bis 80 Prozent des Geschäftes im Export gemacht werden. Märkte sind zum Beispiel die USA, aber auch Frankreich, Österreich, Deutschland sowie einige asiatische Länder, in denen besonderer Wert auf hohe Teequalität gelegt wird. Hälssen & Lyon importiert die Rohware aus insgesamt über 130 Ländern. Weltweit sind insgesamt 250 Mitarbeiter in der Hälssen & Lyon Gruppe tätig, 80 davon im Pickhuben 9.


 

Text: Stephanie Wehnert, Fotos: (1), (3), (4) Thomas Hampel, (2) Hälssen&Lyon

Quartier 04, Dezember 2008–Februar 2009 , Rubrik:    
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