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Gangster und Konsorten

Die Speicherstadt ist eine beliebte Location für Foto-, Film- und Fernsehaufnahmen. Bevor sie in den letzten Jahren zu neuem Leben erwachte, war sie über viele Jahre als düstere Kulisse für Kinofilme im Einsatz.

Dreharbeiten zu „Die toten Augen von London“, Januar/Februar 1961, vor dem heutigen Fleetschlösschen am Holländischbrookfleet (1)

Zu Beginn des Jahres 1961 kommt ein Mann in die Speicherstadt, der zum prägenden Stilisten der erfolgreichsten Kriminalfilm-Reihe des deutschen Kinos werden soll: Alfred Vohrer. Engagiert hat ihn Horst Wendlandt, aus heutiger Sicht das Urgestein des bundesdeutschen Kommerzfilmes (Winnetou, Bud Spencer, Otto, Loriot etc.). Im Alter von 38 Jahren ist Wendtland Geschäftsführer der Rialto-Filmproduktion und hat gerade einen sehr erfolgreichen Deal abgeschlossen. Nachdem sich die Edgar-Wallace-Filme bereits als Publikumsrenner erwiesen haben, kann er die Filmrechte an einer Vielzahl weiterer Wallace-Romane erwerben. Als besonderer Coup erweist sich, dass Wendlandt Alfred Vohrer als Regisseur verpflichtet.

Ein Fleet spielt Themse

Die Außenaufnahmen des sechsten Wallace-Krimis „Die toten Augen von London“ dreht Vohrers Team in Altona, Ahrensburg und der Speicherstadt. Aus dem Holländischbrookfleet, der „Themse“, zieht ein englischer Bobby die Leiche eines Mannes. Wie es bei Wallace üblich ist, folgen schnell weitere Tote. Bevor sich der Scotland-Yard-Inspektor alias Joachim Fuchsberger und die junge Karin Baal in den Armen liegen können, muss erst noch einer verbrecherischen Bande das Handwerk gelegt werden. Düster ist die Stimmung des ersten Vohrer-Wallace, und wer könnte die Augen des blinden Jack vergessen, den der ehemalige Freistilringer Ady Berber alias „der Würger“ unter Zuhilfenahme von weißlichen Kontaktlinsen mimt? Auch die Lagerhäuser der Speicherstadt, die sich geheimnisvoll im Wasser spiegeln, tragen bei zum gruseligen Schauer. Im Gegensatz zu den ersten Filmen der Reihe setzt Vohrer stärker auf Horror-Effekte als auf Humor. Es ist das Unheimliche, das die Serie noch populärer macht, und Vohrer führt bei weiteren 13 Wallace-Produktionen Regie.

Die seriöse Filmkritik hat den späteren Fernseh-Krimi-Routinier Vohrer (Derrick, Der Alte) bisher nicht sonderlich geschätzt. Inzwischen sind die Originalität des Spannungs-Spezialisten, sein Gefühl für spektakuläre Bildwirkungen und geschicktes Timing durchaus anerkannt. Und einer hat ihn schon immer geliebt: Der B-Film-Plünderer Quentin Tarantino hält Vohrer für ein Genie. Mehr noch: Nachdem er als Jugendlicher im Autokino den späten Wallace-Krimi „Die blaue Hand“ (1967) gesehen hat, meint der heutige Edel-Trash-Regisseur, in ihm das deutsche Pendant zu Hitchcock entdeckt zu haben.

Der Schurke hinter dem Spiegel

Die Dreharbeiten zu Wallace Nr. 8, „Der Fälscher von London“, dauern genau einen Monat: vom zweiten Mai bis zum zweiten Juni 1961. Regie führt – zum dritten Mal bei einem Wallace-Krimi – Harald Reinl, der später mit seinen Karl-May-Filmen Furore macht. Im Anschluss an eine längere Atelier-Szene, in der Millionenerbe Peter Clifton (Hellmut Lange) und seine ihm frisch angetraute Ehefrau Jane (Karin Dor) mithilfe einer Rückprojektion durch die Londoner Innenstadt fahren, sieht der Zuschauer die beiden in ihrem offenen Sportwagen die Fleetbrücken der Dienerreihe überqueren. Die Backsteinmauern der Speicherstadt dienen als perfekte Filmkulisse für einen geheimnisumwitterten Wallace-Ort: Am Holländischen Brook residiert der „Gerissene“, der Chef eines Fälscherringes. Verborgen hinter einem Spiegel empfängt er hier seine Opfer, die nur in ihre eigenen fragenden Gesichter blicken, während sie die harschen Anweisungen des Oberschurken vernehmen.

Dass das Kino mit seinen Tricks und Effekten ursprünglich ein reines Jahrmarktvergnügen war, leugnen diese Serienhits nicht. Doch unter ihrer trivialen Oberfläche ist eine tiefgreifende Verunsicherung zu spüren. Die Verschwörungen, Maskierungen, wechselnden Identitäten, die brutalen Verbrechen und unübersichtlichen Plots mit ihren zahlreichen Wendungen, in denen jeder in Verdacht geraten kann, machen die Edgar-Wallace-Filme zu bemerkenswerten Dokumenten für das Lebensgefühl in einer Zeit des Übergangs.

Ein Ort fürs Kino

Peter Timms „Fifty Fifty“: Suzanne von Borsody, Heinz Hoenig und Dominique Horwitz auf der Treppe vor dem HHLA-Hauptgebäude Bei St. Annen 1 (2)

„Die toten Augen von London“ und „Der Fälscher von London“ sind die bekanntesten Kinofilme, die – in Teilen – in der Speicherstadt gedreht worden sind. Die beiden Krimi-Streifen sind bei weitem nicht die einzigen. Schließlich bietet die Stadt der Warenlager und Fleete mehr als Hamburg-typische Postkartenmotive. Sie ist ein Ort mit Vergangenheit, der bis Ende des 20. Jahrhunderts Zollausland ist. Hinter drei Meter hohem Maschendraht tut sich ein finsteres Grenzland auf, das auch Hamburger selten betreten. Es verströmt eine sinnliche Stimmung mit seinen Waren aus Tausendundeiner Nacht: Kaffee und Tee, Gewürze, Tabak und Teppiche werden hier gelagert. Der Fall der Zollgrenze hat diesen Ort wach geküsst, ihn aber auch seiner ursprünglichen Bestimmung beraubt. Die geschäftige Lagerhausatmosphäre verschwindet nun immer mehr, aber die Speicherstadt bleibt Hamburgs außergewöhnlichste Denkmallandschaft mit Windenerkern, Speicherluken, Westphalentürme und den Eisenkonstruktionen der Brücken. Zudem entwickelt sich ein reizvoller Kontrast zwischen der modernen, innovativen Architektur der HafenCity und dem bisweilen etwas verwitterten Charme der alten Lagerhäuser. Kurz: ein Ort, der wie geschaffen ist fürs Kino.

Hannes am Hafen

Schon in Helmut Käutners poetisch-melancholischem Meisterwerk „Große Freiheit Nr. 7“ ist – für einen Augenblick nur – die Speicherstadt zu sehen. Unter schwierigen Umständen entsteht der Film 1943 in Berlin und Prag sowie an wenigen Hamburger Originalschauplätzen. Die Dreharbeiten im Hafen gestalten sich besonders kompliziert. Der Regisseur und sein Star, Hans Albers, achten darauf, dass keine Hakenkreuzfahnen ins Bild kommen. Auch zerbombte Häuser und Straßenzüge sollen auf der Leinwand nicht auftauchen. Und das, obwohl der Film eine Trümmerlandschaft der Gefühle zeigt mit zerstörten Bindungen und verfallenen Werten. Und Albers gibt facettenreich den gebrochenen Helden Hannes. Als singender Seemann tritt dieser im Hippodrom im Rotlichtviertel auf der Reeperbahn auf – nachgebaut in den Prager Barrandov-Ateliers. Am Ende des Films flieht Hannes aus enttäuschter Liebe wieder auf sein Schiff – „Seemanns Braut ist die See, und nur ihr kann er treu sein…“

Während einer Barkassenfahrt, bei der der blonde Hans seiner Gisa (Ilse Werner) den Hafen zeigen will, diese aber fortwährend mit Werftarbeiter Willem (Hans Söhnker) schäkert, erblickt der Zuschauer ein letztes Mal die vollständige neugotische Fassade des eindrucksvollen Kaiserspeichers A mit dem berühmten Westturm. Aufnahmen von historischem Wert, denn noch im selben Jahr fällt das Baudenkmal den Bomben zum Opfer und wird teilweise zerstört. 1963, zwanzig Jahre später, wird die Ruine mit dem erhalten gebliebenen Turm gesprengt – und dieses alte Wahrzeichen des Hamburger Hafens versinkt endgültig in Trümmern.

Trash…

Aber auch in den St. Pauli-Filmen – gemäß Michael Töteberg, dem Spezialisten für Hamburg-Filme, ein eigenständiges Genre – kann der Zuschauer bisweilen die Speicherstadt entdecken. In „Käpt’n Rauhbein auf St. Pauli“ (1971) wandelt Curd Jürgens auf den Spuren von Hans Albers. Hatte doch auch dieser in immer neuen Aufgüssen seines größten Erfolges, „Große Freiheit Nr. 7“, den alternden Seebären gegeben, der sich nicht unterkriegen lässt. „Käpt’n Rauhbein auf St. Pauli“ ist eher ein Beispiel aus den Niederungen der deutschen Filmgeschichte. Den normannischen Kleiderschrank sieht man als Hamburger Kapitän an der Brooksbrücke, bevor er mit seinem alten Pott „Elfe“ in See sticht. Dagegen versprüht Jürgen Rolands „Zinksärge für die Goldjungen“ (1973) jede Menge B-Film-Charme. Gewürzt ist dieser temporeiche Gangsterfilm mit Eastern-Elementen und einigen Romeo und Julia-Motiven. Besonders spektakulär: Eine aufwendig inszenierte Verfolgungsjagd, erst zu Lande und dann mit dem Motorboot durch den Hafen und die Speicherstadt.

… und Kunst

Doch auch Autorenfilmer verschlägt es in die Speicherstadt. Das in Deutschland lebende französische Regisseurs-Ehepaar Jean-Marie Straub und Danièle Huillet dreht hier 1983 wichtige Szenen für seine Kafka-Adaption „Klassenverhältnisse“. Am Anfang dieser schwer zugänglichen Verfilmung des Romanfragments „Amerika“ bricht Kafkas Held, der junge Karl Roßmann, in die Neue Welt auf. Als er in „New-York“ das Schiff verlässt, erblickt der Zuschauer die Lagerhäuser am Brooktor- und Sandtorkai. William Lubtchansky, der bereits mit Godard, Truffaut und Rivette gearbeitet hat, filmt die Speicher aus extremer Untersicht vor einem wolkenlosen Himmel und lässt sie mit ihren düsteren Lageröffnungen monumental und bedrohlich erscheinen. In der ersten Einstellung des kargen Schwarz-Weiß-Filmes war laut Drehbuch ursprünglich ein Bild der Freiheitsstatue vorgesehen – stattdessen erblickt der Zuschauer das Störtebeker-Denkmal.

Jürgen Rolands „Zinksärge für die Goldjungen“: Showdown zwischen Elbbrücken und Michel, der Hamburger Gangster-Chef (Herbert Fleischmann) und der zugewanderte Verbrecherboss (Henry Silva) rechnen ab. (3)

Ein Bankraub bei St. Annen

Von einem Räuber besonderer Art erzählt die Krimikomödie „Fifty Fifty“ (1988) von Peter Timm. Willi (Dominique Horvitz), vertrottelter Sohn aus reichem Hause, will seinem kaltherzigen Vater eins auswischen. Er überfällt dessen Bank, weil er weiß, dass Papa dort eine Million in bar liegen hat, um seine geliebte Sammlung von Marienstatuen zu vervollständigen („Sie sind jungfräulich, und sie widersprechen nicht“). Dabei unterlaufen dem Freizeit-Gangster einige Patzer. Als das Gebäude von der Polizei umstellt ist, drängt sich ihm ein verkrachtes Ehepaar als Geiseln auf. Auf ihrer abenteuerlichen Flucht versuchen Bankräuber und Geiseln immer wieder, sich gegenseitig den Koffer mit der erbeuteten Million abzujagen. Den Bankraub dreht Regisseur Peter Timm vollständig in der Speicherstadt. Für das Hauptmotiv, das Bankhaus „Ahrensen & Co.“, lässt Timm die Unternehmenszentrale der HHLA umdekorieren. „Ein wunderschönes Gebäude, das genau meiner Vorstellung von einer alten, ehrwürdigen Hamburger Bank entsprach,“ so der Regisseur. Das Firmenschild des Gründerzeitbaus lässt er auswechseln und im Foyer Bankschalter und Kassenhäuschen bauen. „Wir hatten enorm viele Schaulustige auf dem Vorplatz ‚unserer‘ Bank. Die Ausstattung war so gelungen, dass Passanten meinten, sie hätten gar nicht gedacht, dass dieses Schmuckstück der Stadt jetzt einer Privatbank gehören würde…“ Timm spricht von dem Dreh­ort immer noch mit Begeisterung: „Die Speicherstadt mit ihren roten Klinkern stand für mich für Hamburg. Sie ist einer der attraktivsten Drehorte der Hansestadt“. Timm, Experte für publikumswirksame Komödien wie „Go, Trabi, Go“ (1991), „Manta – Der Film“ (1991) oder „Rennschwein Rudi Rüssel“ (1994), gelingt mit seinem zweiten abendfüllenden Spielfilm eine sympathische kleine Komödie mit glänzenden Darstellern.

Kino in Zeiten des Fernsehens

Auch in den 90ern filmen Kinoregisseure in der Speicherstadt. Auf diesem Wege kehren 1993 die Beatles nach Hamburg zurück. In der deutsch-britischen Koproduktion „Backbeat“ von Iain Softley spielt die legendäre Liverpooler Band wieder im Kaiserkeller auf der Reeperbahn. Im Mittelpunkt von „Backbeat“ steht der „fünfte Beatle“, Stuart Sutcliffe, ein mäßiger Bassist, aber begabter Maler, der sich in Hamburg in die Fotografin Astrid Kirchherr verliebt. Sie ist es, die die ersten professionellen Fotos der Band macht. Im Film entstehen diese in der Speicherstadt, an der Neuerwegsbrücke mit der Skulptur der heiligen Anna an Block O, dem ersten Verwaltungsgebäude der HFLG im Hintergrund sowie am Lagereingang von Kaffee-Importeur „Eichholz & Consorten“ am St. Annenufer.

1996 reist ein holländisches Filmteam in Hamburg an. Regisseur Mike van Diem verfilmt den Roman „Karakter“ von Ferdinand Bordewijk, einen Klassiker aus dem Jahre 1938, der in den Niederlanden zur Pflichtlektüre an den Schulen gehört. Bald schon bevölkert ein Heer von Statisten die Gegend um das Kesselhaus, in der das Rotterdam der Zwischenkriegszeit zu neuem Leben erweckt wird. Im Ostflügel der ehemaligen Energiezentrale der Speicherstadt residiert jetzt der Gerichtsvollzieher Dreverhaven, ein brutaler, rücksichtsloser Kapitalist, der bei Pfändungen selbst vor den Betten Sterbender nicht haltmacht. Nach seinem mysteriösen Tod wird der uneheliche Sohn Jacob verhaftet, dessen ungewöhnliches Leben der Film in Rückblenden aufrollt. Das Rotterdam der 20er Jahre ist am Schneidetisch entstanden und setzt sich aus Bildern zusammen, die van Diem in Holland, Belgien, Polen und eben der Speicherstadt gedreht hat. Sein erschreckendes Psychogramm einer Familie wird zum internationalen Erfolg und gewinnt 1998 den Oskar für den besten fremdsprachigen Film.

Der Triumph des Puschenkinos

Der größte Lagerhauskomplex der Welt kann auf jahrzehntelange Erfahrungen mit Dreharbeiten zurückblicken, für große und kleine Spielfilme, für wichtige und weniger wichtige. Der Erfolg des Fernsehens aber hat das Kino in eine schwere Krise gestürzt – die Wohnzimmer werden mehr und mehr von den flimmernden Röhrengeräten erobert, viele Zuschauer bleiben zu Hause. Seit dem Ende der 50er Jahre hat ein Machtwechsel stattgefunden: Die Trends setzt nun das Fernsehen. Und die Speicherstadt und die wachsende HafenCity entwickeln sich zum Eldorado für Fernsehserien – insbesondere für Krimis.

 

Text: Bettina Mertl-Eversmeier, (1) Staatsarchiv Hamburg, (2), (3) Deutsche Kinemathek

Quartier 04, Dezember 2008–Februar 2009 , Rubrik:    
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