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Der vergessene Ort

Nur wenige kennen den Hannoverschen Bahnhof. Noch weniger wissen, dass 1940 bis 1945 die Deportationen zahlreicher Juden, Roma und Sinti hier ihren Anfang nahmen. Ein Gedenkort im Lohsepark soll das ändern.


Bis zum Bau des Hauptbahnhofs war der Hannoversche Bahnhof der bedeutendste Bahnhof Hamburgs. Das imposante Hauptportal (oben, ca. 1900) mit überdachten Bahnsteigen ist auf dem Bild aus den Dreißiger Jahren (Bildmitte links) deutlich zu erkennen.

Bis zum Bau des Hauptbahnhofs war der Hannoversche Bahnhof der bedeutendste Bahnhof Hamburgs. Das imposante Hauptportal (Bild (2), ca. 1900) mit überdachten Bahnsteigen ist auf dem Bild aus den Dreißiger Jahren (Bild (1), Bildmitte links) deutlich zu erkennen. (1)

Nachdem die Deutsche Bahn bereits begonnen hatte, sich für die Bauarbeiten an der Pfeilerbahn einzurichten, wurde Anfang 2008 praktisch in letzter Minute entschieden, das Gelände am Bahnsteig 2 des ehemaligen Hannoverschen Bahnhofs für die Errichtung eines Gedenkorts für Deportationen aus Hamburg unter Denkmalschutz zu stellen. Die Deutsche Bahn war nicht weniger überrascht als die meisten Hamburger, sind doch sowohl der Bahnhof als auch die grauenvollen Ereignisse, die sich dort abgespielt haben, in den vergangenen Jahrzehnten fast gänzlich in Vergessenheit geraten.

Der Hannoversche Bahnhof

Nach der Fertigstellung der Elbbrücken wurde 1872 auch der Betrieb der Eisenbahn aufgenommen, die jetzt an das Gleisnetz südlich der Elbe angeschlossen war. Der Hamburger Endbahnhof wurde seither, in Anlehnung an den deutschen Streckenabschnitt der Verbindung Hamburg-Paris, als Hannoverscher Bahnhof bezeichnet. Nach dem Bau des Hauptbahnhofs 1906 verlor er zwar an Bedeutung, diente aber weiter als Reservebahnhof, vor allem aber als Hauptgüterbahnhof. Im ausgehenden 19. Jahrhundert war er das Ziel vor allem jüdischer Auswanderer, die sich, vor Pogromen in Russland und Osteuropa fliehend, auf dem Weg nach Übersee befanden. Zwei Generationen später war er nicht mehr Zwischenstopp auf dem Weg in die Freiheit, sondern Ausgangsort für die Verschleppung in die Arbeits- und Vernichtungslager des Dritten Reiches. 1940 bis 1945 fuhren von hier aus zwanzig Güterzüge mit insgesamt fast 8.000 Juden, Sinti und Roma nach Belzec, Lodz, Minsk, Riga, Auschwitz und Theresienstadt.

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Dieser Teil Hamburger Geschichte ist nicht nur aus der Erinnerung verschwunden, sondern auch aus dem sichtbaren Stadtbild. Kaum etwas erinnert heute noch daran, dass hier einmal ein Bahnhof stand, nach seinem Bau 1872 über dreißig Jahre sogar der bedeutendste Bahnhof Hamburgs. Das imposante Hauptportal wurde 1955 wegen Baufälligkeit gesprengt. Nach weiteren Abrissen kleinerer Nebengebäude zeugen heute nur noch die Gleisverläufe und die Reste eines Bahnsteigs von der Existenz des Bahnhofs.

Kaum jemand hat überlebt, was sich nach den Deportationen ereignete. Für diejenigen, die bei Kriegsende noch lebten, war weniger der Bahnhof in der Erinnerung gegenwärtig geblieben, sondern vielmehr die Bestimmungsorte, die Gettos, die Lager, in die sie verschleppt wurden. Über die kommenden Jahrzehnte wurde mit Deportationen aus Hamburg daher selten ein eindeutiger Erinnerungsort verbunden.

Deportation

Am 16. März 1940 begann die Kriminalpolizei, Sinti und Roma aus ihren Wohnungen zu holen und zusammen zu treiben. Ganze Familien, vom Säugling bis zum Greis, wurden in den Fruchtschuppen C transportiert. Vier Tage lang wurden dort immer mehr Menschen zusammengedrängt, gezählt, nummeriert. Man sagte ihnen, sie bekämen ein Häuschen in Polen. Am 20. Mai 1940 wurden in der ersten Deportation aus Hamburg 910 Roma und Sinti in Güterwagen verladen und in das provisorische Lager Belzec deportiert.

Wenig später wurde auch mit Deportationen von Juden begonnen. Nach jahrelangen Schikanen und Zwangsmaßnahmen hatten 1940/41 bereits viele Juden ihre Heimatstadt Hamburg verlassen. Wer geblieben war, verlor seine Arbeit, musste aufgrund seiner ruinösen finanziellen Verhältnisse oder auf Befehl der Gestapo seine Wohnung räumen. Als die ersten sogenannten Evakuierungsbefehle auf dem Postweg in den jüdischen Haushalten eintrafen, waren sie in der Mehrzahl verarmt und sozial isoliert. Lapidar wurden sie darüber informiert, dass sämtliches Vermögen, ihr gesamter verbliebener Besitz, beschlagnahmt sei. Sie wurden außerdem aufgefordert, sich zu einer Sammelstelle zu begeben, etwa der Provinzialloge an der Moorweide. Von dort wurden sie mit Lkws zum Hannoverschen Bahnhof gefahren. Von dort nach Auschwitz.

Hanseatische Mittelstandsbürger

An der Moorweide fuhren fast minütlich S-Bahnen vorbei, aus denen neugierige Fahrgäste das Geschehen beobachteten. Unter dem Beifall schaulustiger Hamburger wurden die versammelten Juden zu wartenden Lastwagen gebracht. Die Deportationen waren keine Geheimoperation, sondern fanden am hellichten Tage statt. Gut sichtbar und in aller Öffentlichkeit.

Wenige authentische Relikte zeugen heute noch vom Hannoverschen Bahnhof. Zwischen 1940 und 1945 wurden fast 8.000 Roma, Sinti und Juden von hier in den Tod geschickt. (3)

Wenige authentische Relikte zeugen heute noch vom Hannoverschen Bahnhof. Zwischen 1940 und 1945 wurden fast 8.000 Roma, Sinti und Juden von hier in den Tod geschickt. (3)

Während Sinti und Roma auf Weisung aus Berlin deportiert wurden, ging der Anstoß zur Deportation der Juden von der Hamburger Verwaltung aus. Ihre Wohnungen hatten angesichts der wachsenden Wohnungsnot allgemeines Interesse geweckt. Die Hamburger Bevölkerung beteiligte sich anschließend in großem Umfang an den öffentlichen Versteigerungen des Besitzes von Juden und „umgesiedelten Zigeunern“, die häufig in der Presse angekündigt wurden. Auch Dutzende Schiffsladungen mit Möbeln, Hausrat und Kleidung aus dem Besitz deportierter Juden aus den Niederlanden wurden versteigert. Finanzbeamte prüften die Vermögenserklärungen der Deportierten. Wohnungsämter kümmerten sich um Wohnungen und Möbel. Mitarbeiter der Bahn organisierten die Transporte. Jemand steuerte die Lastwagen zum Bahnhof, tippte die ausführlichen Deportationslisten, löschte im Schuppen 25 der Hafen- und Lagerhaus-AG die Besitztümer niederländischer Juden. Hausbewohner erschienen zu den Versteigerungen, die häufig in den Wohnungen stattfanden, und versuchten, bei ihren ehemaligen Nachbarn ein Schnäppchen zu machen.

Der Weg zur Erinnerung

Es gab bereits in der Vergangenheit vereinzelte und unzusammenhängende Bemühungen, die Deportationen aus Hamburg ins öffentliche Bewusstsein zurück zu holen, in der Mehrzahl allerdings ausschnitthaft und getrennt nach „Opfergruppen“, also Juden auf der einen, Roma und Sinti auf der anderen Seite. Im Anschluss an mehrere Gutachten und Gespräche zwischen Opferverbänden, Behörden und anderen Beteiligten wurden die verbliebenen Relikte des Hannoverschen Bahnhofs schließlich im Frühjahr 2008 unter Denkmalschutz gestellt. Die schwarz-grüne Koalition im Rathaus verständigte sich darauf, hier einen Gedenkort zu errichten, der inmitten des geplanten Lohseparks die Erinnerung an die Deportationen wach halten soll.

Der Masterplan für die HafenCity wurde eigens abgeändert, um auf der östlichen Seite des Lohseparks entlang der Gleisverläufe und des Bahnsteigs 2 einen Gedenkort zu errichten.

Der Masterplan für die HafenCity wurde eigens abgeändert, um auf der östlichen Seite des Lohseparks entlang der Gleisverläufe und des Bahnsteigs 2 einen Gedenkort zu errichten. (4)


Um diesen Gedenkort verwirklichen zu können, wurde eigens der Masterplan für die HafenCity abgeändert. 8.500 Quadratmeter, die zunächst noch für Verkauf und Bebauung vorgesehen waren, werden für den Gedenkort eingeplant. Die Gedenkstätte selbst kann zwar erst nach 2017 errichtet werden, wenn der Mietvertrag mit der auf dem Gelände ansässigen Spedition ausläuft, aber das Dokumentationszentrum ist bereits für 2012/13 geplant, sobald der neue Hildebrand-Komplex am Lohseplatz fertig gestellt ist.

„Untertanengeist und verkümmerte Zivilcourage“

Was den Hannoverschen Bahnhof so bedeutend für die Erinnerungskultur macht, ist nicht allein die Einbeziehung aller „Opfergruppen“. Bedeutend ist vor allem, dass die Auseinandersetzung mit weit entlegenen Orten des Verbrechens in die sichtbare Hamburger Innenstadt geholt wird. In diesem Zusammenhang tritt auch in den Vordergrund, dass die Überlebenden, die Hinterbliebenen und auch die heutige Bevölkerung Hamburgs sehr unterschiedliche Erwartungen an einen Gedenkort knüpfen, die über das bloße Erinnern und Gedenken weit hinausgehen.

Dr. Peter Fischer vom Zentralrat der Juden verbindet mit dem Gedenkort einen konkreten Bildungsauf trag. Er soll „eine wirklich tiefer gehende, nachhaltig wirksame Auseinandersetzung mit den Themen Untertanengeist, Bereicherungstrieb, Denunziation oder verkümmerter Zivilcourage“ anstoßen. Für Sinti und Roma knüpfen sich an den Ort noch existenziellere Belange. „Es geht dabei nicht nur um die Anerkennung des Völkermords an den Sinti und Roma,“ erklärt Silvio Peritore vom Zentralrat der Sinti und Roma, „sondern um die Wahrnehmung unserer Minderheit in der deutschen und internationalen Gesellschaft.“ Angesichts der Diskriminierung, der Sinti und Roma heute noch in weiten Teilen Europas ausgesetzt sind und der die Weltöffentlichkeit weitestgehend gleichgültig gegenüber steht, geht es ihnen nicht allein um die Würdigung ihrer Opfer während des Dritten Reichs. „Es geht“, so Peritore, „in der Politik wie in der Erinnerungsarbeit vor allem um Akzeptanz und Respekt.“  
 


DIE AUSSTELLUNG
Im Kunsthaus ist noch bis zum 26. April 2009 die Ausstellung „In den Tod geschickt – Die Deportationen von Juden, Roma und Sinti aus Hamburg 1940 bis 1945“ zu sehen, die als Basis für eine Dauerausstellung im Dokumentationszentrum dienen soll. Sie wird begleitet von einer kostenlosen Vortragsreihe in der Talmud-Tora-Schule am Grindelhof (zum Programm siehe www.zeitgeschichte-hamburg.de).

DER GEDENKORT
Planungen zur Gestaltung des Gedenkorts sind für die nähere Zukunft geplant. Spannende, teilweise radikale Ideen zu einer möglichen Umsetzung wurden bereits jetzt von Architekturstudenten der HafenCity Universität (HCU) entworfen. Die Ergebnisse werden voraussichtlich im April 2009 in der HCU ausgestellt und ab Mitte Juli während des Hamburger Architektursommers im HCU-Präsidium am Lohseplatz 1 gezeigt.


 

Text: Nikolai Antoniadis, Fotos: (1) HHLA, (2) Archiv Dierk Lawrenz, (3) Thomas Hampel, Visualisierung: HafenCity Hamburg GmbH, (4) Illustration: Michael Korol

Quartier 05, März–Mai 2009 , Rubrik:    
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