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Patronin der Speicherstadt

Wo heute nur noch eine Brücke und eine Steinfigur an sie erinnern, hatte sie einst eine eigene Kapelle: die Heilige Anna.

Die St.-Annen-Kapelle am Brooktor vor ihrem Abriss 1869. Im Hintergrund der Turm der St.-Katharinenkirche. (1)

Die St.-Annen-Kapelle am Brooktor vor ihrem Abriss 1869. Im Hintergrund der Turm der St.-Katharinenkirche. (1)

Ein Detail am ehemaligen Verwaltungsgebäude der Hamburger Freihafen-Lagerhaus-Gesellschaft am Sandtorkai macht stutzig. An der Nordostecke schmücken zwei Figuren in einer Nische – eine Frau und ein sich an sie schmiegendes Mädchen – den malerischen neogotischen Bau. Das Figurenpaar stellt Maria und Anna dar, wobei letztere nach der apokryphen, d. h. nicht zum biblischen Kanon gehörenden Überlieferung die Mutter Marias und somit die Großmutter von Jesus Christus ist. Katholische Heiligenverehrung an einem Verwaltungsgebäude der Hafenwirtschaft? Und dazu noch mitten in der Speicherstadt?

Die steinerne Figurengruppe am weinberankten Kopfbau von Block O zeigt Maria mit ihrer Mutter Anna: die Mutter – und die Großmutter Christi. (2)

Die steinerne Figurengruppe am weinberankten Kopfbau von Block O zeigt Maria mit ihrer Mutter Anna: die Mutter – und die Großmutter Christi. (2)

Um zu begreifen, warum ausgerechnet dieses Thema für die Skulptur gewählt wurde, muss man die Vorgeschichte des Ortes kennen. Ungefähr dort, wo das St. Annenufer auf die St. Annenbrücke trifft, stand ursprünglich die St.-Annen-Kapelle, die 1566 als Begräbniskapelle für den St.-Annen-Friedhof errichtet worden war. Diese Begräbnisstätte, die zum Kirchspiel St. Katharinen gehörte, nahm die Opfer der Pestepidemie von 1564 auf, die auf den übrigen innerstädtischen Friedhöfen keinen Platz mehr fanden. Der Friedhof wurde 1812 aufgehoben. Doch die Kapelle fiel erst 1869 der Verbreiterung der Zufahrtstraßen zum Sandtorkai zum Opfer.

Die Verehrung der heiligen Anna hatte ihren Höhepunkt um 1500. Bergleute wählten sie damals besonders gerne zu ihrer Patronin, woran heute noch die Stadt Annaberg erinnert. Aber auch Fischer und Seeleute erhofften sich von der heiligen Anna Schutz und Fürbitte. Ausdruck des Annenkults waren auch die St.-Annen-Bruderschaften, die sich an vielen Klöstern bildeten, so auch 1492 am Hamburger Franziskanerkloster Maria-Magdalena. An deren Wirken erinnerte wohl die St.-Annen-Kapelle. Es ist allerdings verwunderlich, dass der Bau in der nachreformatorischen Zeit nach einer Heiligen benannt wurde, deren Existenz sich in der kanonisierten Fassung der Evangelien nicht belegen lässt.

Wie dem auch sei: Im 19. Jahrhundert ging man mit der Kirchengeschichte in Hamburg ähnlich pragmatisch um. Die meisten Sakralbauten in der Innenstadt einschließlich der Domkirche St. Marien fielen zwar in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts der Spitzhacke zum Opfer. Doch die neuen Gotteshäuser, die ab der Gründerzeit etwa in Rotherbaum, Uhlenhorst oder Barmbek entstanden, sollten zumindest dem Namen nach an die verlorenen Klöster, Stifte und Kapellen erinnern, was z. B. bei der St.-Johannis-Kirche, der St.-Gertruden-Kirche oder der Heiligengeistkirche der Fall war. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt Hamburg sogar eine protestantische St.-Marien-Kirche, die in Ohlsdorf steht.

Der Ort, an dem einst die St.-Annen-Kapelle stand, liegt vor dem heutigen Speicherblock R und dem ehemaligen Freihafenamt.  Von Gerüsten und Planen verborgen, ist links im Bild hinter Block R der Kirchturm von St. Katharinen zu sehen. (3)

Der Ort, an dem einst die St.-Annen-Kapelle stand, liegt vor dem heutigen Speicherblock R und dem ehemaligen Freihafenamt. Von Gerüsten und Planen verborgen, ist links im Bild hinter Block R der Kirchturm von St. Katharinen zu sehen. (3)

Auch der heiligen Anna wurde weiterhin gedacht. Eine Gelegenheit, den Namen zu tradieren, bot sich in Hammerbrook, das sich in der Gründerzeit zu einem Arbeiterviertel entwickelt hatte. 1901 wurde dort die St.-Annen-Kirche fertiggestellt. Die Namenswahl war kein Zufall, denn trotz des eigenen Gotteshauses gehörten die Protestanten in Hammerbrook noch bis 1930 offiziell zur Hauptkirche St. Katharinen, so dass der Name die Zugehörigkeit zur Muttergemeinde unterstrich. 1943 wurde die St.-Annen-Kirche im Feuersturm zerstört. An den einstmals so beliebten Annenkult erinnert in Hamburg deshalb außer der Skulptur am HFLG-Gebäude heute nur noch der St. Anna und St. Petri geweihte Altar der Fischerzunft in St. Jacobi (um 1508). Außerdem gibt es in Langenhorn eine katholische St.-Annen-Kirche.

Text: Ralf Lange, Fotos: (1) Hamburger Hafen und Logistik AG, (2) Thomas Hampel, (3) Heinz-Joachim Hettchen

Quartier 06, Juni–August 2009 , Rubrik:    
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