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Auf dem Boden der Tatsachen

Was vor zwanzig Jahren als Sonderausstellung begann, ist zu einer Institution der Hamburger Museumslandschaft geworden. Im Speicherstadtmuseum ruht heute das Gedächtnis der alten Lagerhäuser.

Als Henning Rademacher in den 1980er Jahren die Speicherstadt für sich entdeckte, ließ sich so manches dort etablierte Gewerbe schon im Treppenhaus oder sogar von der Straße aus am Geruch erkennen. So wurde köstliches Aroma verströmt, wenn die ansässigen Kaffeehändler ihre frisch eingetroffene Ware mit dem Proberöster prüften, und auch beim Gewürzhändler verbreiteten sich spezifische Gerüche bisweilen schon beim Umladen. „Heute“, stellt der Chef des Speicherstadtmuseums mit hörbarem Bedauern fest, „findet man hier vor allem Agenturen und Modefirmen. Die riechen nicht.“ Natürlich ist die Speicherstadt nicht mehr der Lagerhauskomplex mit Freihafenstatus, als der sie anlässlich des Hamburger Beitritts zum Deutschen Zollverein 1888 erbaut worden war. „Aber die Zeit kann man nun mal nicht aufhalten. Und es ist doch auch wiederum großartig, dass uns die Gebäude der Speicherstadt erhalten geblieben sind“, sagt Rademacher und gibt sich versöhnlich mit den Realitäten. Damit aber die alten Zeiten mit ihren Kaffee-, Tee- und Gewürzhändlern, mit den Schuten und der alltäglichen schweißtreibenden Handarbeit der Quartierslüüt beim Stauen auf den Speicherböden nicht ganz in Vergessenheit geraten, gibt es seit 1995 unter Rademachers Ägide das Speicherstadtmuseum am St. Annenufer.

„Heute findet man in der Speicherstadt vor allem Agenturen und Modefirmen. Die riechen nicht.“


Und diese Vergangenheit war spannend und ist es bis heute: Da sind Kaffeesäcke und Teekisten gestapelt, kann man Teile alter Ladegeschirre entdecken, Kaffeefrachter im Modell bestaunen, am Original einer „Schottsche Handkarre“ von 1905 erkennen, wie mühsam noch vor 100 Jahren das Transportieren von Gütern war und den Arbeitsplatz eines Teehändlers oder auch einen Ladenröster aus den 1930er Jahren besichtigen. Verkostungen mit Tee- und Kaffeeexperten finden übrigens regelmäßig sowie für Gruppen auf Anfrage statt. Und zwischen den Exponaten auf dem urigen dritten Boden mit knarrenden Dielen und hölzernen Deckenträgern im Originalzustand von 1897 entdeckt man auch beispielhafte Fotoszenen aus der Vergangenheit, z. B. eine Ablichtung von 1936, auf der ein Mann vor der Silhouette der Speicherstadt eine Schottsche Karre zieht, flankiert von einem Pferdefuhrwerk und einem altertümlich wirkenden Lastwagen im Gegenverkehr. Ein immer wiederkehrendes Motiv: Das Alte ist noch da und funktioniert. Aber das Neue steht schon zur Ablösung bereit. Einige Exponate des Museums gehen auf die erste Ausstellung zum 100jährigen Jubiläum der Speicherstadt zurück. Träger war damals das Museum der Arbeit, bei dem der gelernte Seemann (vom Schiffsjungen bis zum Kapitänspatent) und spätere Diplom-Volkswirt Rademacher gerade ein Volontariat für Museumspädagogik machte. Die Schau kam mit rund 30.000 Besuchern in vier Monaten so gut an, dass sie ein Jahr später zum 800. Hafengeburtstag noch einmal an gleicher Stelle in Untermiete der Quartiersmannfirma Eichholtz & Cons. gezeigt wurde. Schließlich präsentierte Rademacher die Ausstellung dauerhaft und auf eigenes Risiko ab 1995 in erweiterter Form als Speicherstadtmuseum der Öffentlichkeit. Inzwischen hat sich das Speicherstadtmuseum mit rund 62.000 Besuchern jährlich einen festen Platz in der faszinierenden Museumslandschaft der Speicherstadt erobert.

Henning Rademacher: Einst Schiffsjunge, später Kapitän, heute Museumsleiter (links). Museumscafé: Der Name „Kaffeeklappe“ meinte früher Kantinen der Hafenarbeiter (rechts)

Henning Rademacher: Einst Schiffsjunge, später Kapitän, heute Museumsleiter (links). Museumscafé: Der Name „Kaffeeklappe“ meinte früher Kantinen der Hafenarbeiter (rechts)

Neue Exponate fand der Museumschef und Hafenkenner anfangs fast täglich. Immer wieder riefen ihn Firmen an, die sich aus der Speicherstadt zurückziehen wollten: „Wir machen morgen dicht. Schauen Sie doch noch mal rein, ob Sie was gebrauchen können.“ So etwas ließ sich Rademacher nicht zweimal sagen, denn er ahnte wohl schon, wie es zehn Jahre später aussehen würde: „Heute kommt nichts mehr rein. Es gibt ja hier praktisch keine alten Firmen mehr.“ Alte Fotos aber gibt es noch. Zum Beispiel die des HHLA-Fotografen Gustav Werbeck, mit denen die aktuelle Sonderausstellung „Der Hafen arbeitet wieder! Fotos von 1946–1956“ auf dem vierten Boden bestückt wurde. Historisch wertvolle Aufnahmen von rauchenden Schornsteinen, alten Schiffen, rotten Schuppen und ersten „Käfer“-Exportverladungen. Die Fotos sind noch bis zum 10. Januar 2010 zu sehen. Bis Ende November führt Henning Rademacher jeden Sonntag um 14 Uhr persönlich durch die Ausstellung.

Speicherstadtmuseum
St. Annenufer 2, 20457 Hamburg
Di. bis Fr. 10–17 Uhr, Sa. bis So. 10–18 Uhr
www.speicherstadtmuseum.de

Text: Michael Hertel, Fotos: Thomas Hampel

Quartier 07, September–November 2009 , Rubrik:    
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