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Blind Date

Seit zehn Jahren ist der Dialog im Dunkeln ein Forum für Begegnung und Sinneswahrnehmung. Das Angebot reicht von Führungen über Businesstrainings bis zum Vier-Gänge-Menü.


Wo Sehende hilflos umherirren, befinden sie sich in ihrer natürlichen Umgebung: Blinde Guides führen durch die lichtlosen Ausstellungsräume.

Wo Sehende hilflos umherirren, befinden sie sich in ihrer natürlichen Umgebung: Blinde Guides führen durch die lichtlosen Ausstellungsräume.


„Hallo, ich bin Marc und wie heißt ihr?“ fragt eine helle, freundliche Männerstimme. Marc ist nicht zu sehen, aber wir wissen, dass er da ist. Er ist unser Guide während der kommenden anderthalb Stunden durch das Reich im Dunkeln. Als erstes traut sich ein Kind zu antworten und seinen Namen in die Dunkelheit zu sagen: „Ich heiße Enno“, sagt die kecke Jungenstimme. „Und ich Hanno“, folgt ein weiteres Kind. Tröpfchenweise stellt sich der Rest der Gruppe vor, drei Kinder, zwei Jugendliche, drei Erwachsene. Marc hat sich sofort alle Namen gemerkt, muss nicht einmal nachfragen. Für uns Gäste ist das erst einmal anders. Wir sind es ja gewohnt, Gesichter kennenzulernen. Muss man sich da gleich die Namen jener Menschen merken, mit denen man jetzt zufällig als Gruppe zusammengewürfelt wurde, um gemeinsam eine Ausstellung zu besuchen? Doch dieser Dialog im Dunkeln ist keine Ausstellung wie andere Ausstellungen, durch die man gemächlich schlendert und betrachtet, was an den Wänden hängt, im Weg herumsteht und wer sonst noch so dabei ist. Hier sind die Räume schwarz, das Auge spielt nicht mit, die Besucher haben keine Gesichter. Hier wird mit dem Blindenstock in der Hand und den verbliebenen Sinnen die Dunkelheit erkundet. Und hoppla – schon nach wenigen Schritten finden Bekanntschaften statt, so dass sich spätestens im zweiten Ausstellungsraum alle kennengelernt haben, mit Namen und ohne Gesicht. Sabine trägt einen schmalen Rucksack, Solomé einen Kapuzenpulli und Helene hat kalte Hände.

Seit April 2000 ist Dialog im Dunkeln in  der Speicherstadt zu erleben. // Blindenstöcke ersetzen im Dunkeln  die Augen der Besucher.

Seit April 2000 ist Dialog im Dunkeln in der Speicherstadt zu erleben. // Blindenstöcke ersetzen im Dunkeln die Augen der Besucher.


Je nachdem, ob man sich für die kleine oder die große Tour entschieden hat, sind es vier oder sechs Erlebnisräume, die durch die Dunkelheit erkundet werden. Die ersten Schritte bringen Orientierungslosigkeit. Wie groß ist der Raum? Wo ist vorne, wo hinten? Wo ist der Weg? In dieser Welt kennt sich nur einer aus: unser Guide. „Marc?“ „Hier bin ich, Philipp. Du kommst jetzt gleich auf eine Brücke. Fühlst du schon das Geländer?“ Marc kennt nicht nur unsere Namen, er scheint auch immer zu wissen wo wir uns gerade befinden. Er gibt uns Sicherheit, ohne ihn wären wir hier verloren. Er begleitet uns durch eine Welt, für die wir im Alltag blind sind, obwohl sie uns ständig umgibt. Die Ausstellungsräume im alten Speicher sind der Wirklichkeit vor der Tür nachgebildet. Wir hören die Stadt, die Natur, die Stille. Wir tasten Mauerwerk, den Schaltkasten an einer Ampel, die Blätter einer Pflanze. Wir riechen den Duft frischer Orangen, spüren einen leichten Wind und atmen modrige Luft am Hafenbecken. Jeder Tritt achtet auf den Untergrund. Mit jedem Moment im Dunkeln werden die übrigen Sinne schärfer. Und mit jedem Schritt wächst die Neugierde, was die Dunkelheit verbirgt.

 

Mit jedem Moment im Dunkeln werden die übrigen Sinne schärfer.

 
Ideengeber und genialer Initiator des Dialogs im Dunkeln ist Andreas Heinecke, ein ehemaliger Journalist, den vor über zwanzig Jahren die Zusammenarbeit mit einem erblindeten Kollegen dazu inspirierte, Projekte ins Leben zu rufen, die Begegnung und Erfahrungsaustausch zwischen blinden und sehenden Menschen ermöglichen. Er hatte erkannt, dass der Verlust eines wesentlichen Wahrnehmungsorgans nicht nur Einschränkung bedeutet, sondern auch eine Schärfung aller übrigen Sinne mit sich bringt und das Tor für ungewohnte Wahrnehmungsmöglichkeiten öffnet. „Es findet ein sozialer Rollentausch statt, der eine fundamentale Erfahrung generiert: den jeweils Anderen besser zu verstehen“, erläutert Andreas Heinecke den grundlegenden Ansatz des Dialogs im Dunkeln, der seit vier Jahren auch in Seminaren für Führungskräfte praktiziert wird. „Hier zeigt sich, dass der lichtlose Raum eine der wirksamsten Lernumgebungen ist, um nachhaltige Entwicklungen zu initiieren.“ In Hamburg sind es jährlich 75.000 Ausstellungsbesucher, die sich auf diese Erfahrung der Dunkelheit und die Begegnung mit dem Anderen einlassen. Über 200 Seminare und Trainings werden jährlich von Unternehmen wie Unilever, Airbus oder Olympus für die Schulung von Führungskräften gebucht. Weltweit ist der Dialog im Dunkeln in über 30 Ländern ständig oder durch Gastausstellungen präsent, so dass nicht nur eine brillante Erfahrungslandschaft für sehende, sondern auch eine Vielzahl von Arbeitsplätzen für blinde Menschen geschaffen wurde. So auch am Alten Wandrahm, wo 50 blinde oder sehbehinderte Menschen als Ausstellungsguides, Business Trainer oder Servicekräfte beim Dinner und in der Dunkelbar ihren Lebensunterhalt auf dem ersten Arbeitsmarkt verdienen. 

Text: Hellmut Daniel, Fotos: G2 Baraniak
Quartier 08, Dezember 2009–Februar 2010 , Rubrik:    
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