« Zurück zur Übersicht

Ein Mann mit vielen Gesichtern

Seit mehr als 40 Jahren arbeitet Manfred Stempels in der Speicherstadt. Er erschafft hintergründige Objekte und ist mit seinen Fotos und Buch-Konzepten zu einem Chronisten des Hafens geworden. Ein Portrait zum Abschied.

Dreidimensionaler Spiegel: Wie aus einem Baukasten setzen sich Einzelteile wieder zu einem Ganzen zusammen und offenbaren neue Ansichten. (1)

Dreidimensionaler Spiegel: Wie aus einem Baukasten setzen sich Einzelteile wieder zu einem Ganzen zusammen und offenbaren neue Ansichten. (1)

„Auf dem Sande“ lautet der poetische Name der kleinen Straße, die den ältesten Teil der Speicherstadt mit dem ersten Bauabschnitt der HafenCity verbindet. An dieser Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft arbeitet Manfred Stempels. Im Westflügel von Block E befindet sich das Atelier des Grafikers, Fotografen und Objektkünstlers mit niederländischem Pass.
Wer Stempels’ Werkstatt betritt, dem werden schnell zwei Dinge klar: Der Mann hasst Schränke und mag Gesichter. Genau genommen ein einziges Gesicht. Während auf dem Fußboden Reihen von Aktenordnern, Prints und Fotos liegen, sind die Wände bedeckt von zahlreichen Metamorphosen immer desselben Gesichts. Fragmentiert, zerteilt, aufgelöst in Einzelteile und neu arrangiert, perspektivisch verzerrt. Was auf den ersten Blick wie die Schnittmuster eines unheimlichen Schönheitschirurgen aussieht, erweist sich bald als doppelbödiges Spiel mit Betrachter und Betrachtetem. Es ist richtig, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Aber in Stempels‘ Arbeiten wird deutlich, dass das geflügelte Wort auch umgekehrt gilt: Der Hang zur Kleinteiligkeit, zur Auflösung eines Ganzen in seine Bestandteile, lenkt den Blick auf das Detail. Das schlichte Porträtfoto einer jungen Frau, auf 25 bewegliche Metallstifte gesetzt, wird plötzlich veränderlich und formbar und kann Gefühlslagen und Stimmungen wiedergeben, die in der ersten starren Momentaufnahme unsichtbar bleiben. Die Neuordnung der einzelnen Elemente – Augenlider, Mundwinkel, Haarwirbel, Stirnfalten – macht das Gesicht bald verführerisch, bald debil und kann es in wenigen Sekunden von der Muse zur Furie werden lassen.

Ein Gesicht kann sich in Sekunden von der Muse zur Furie wandeln.
Auf bewegliche Holzblöcke montiert, erwacht die starre Fotografie zu  bizarrem Leben. (2)

Auf bewegliche Holzblöcke montiert, erwacht die starre Fotografie zu bizarrem Leben. (2)

„Mit einfachen Mitteln einen möglichst starken Ausdruck erzielen“, sagt Stempels, „das habe ich schon während meines Studiums an der Fachhochschule in der Armgardstraße versucht.“ Freie Malerei und Grafikdesign hat Stempels dort studiert. Ohne Schulabschluss war er mit 17 Jahren nach Hamburg gekommen, hatte die Aufnahmeprüfung bestanden und sich in seinem Element befunden: Zeichnen, Malen, Fotografieren, dazu kunsthistorische Seminare. Seine Dozenten inspirieren ihn früh zu eigenen Arbeiten und Experimenten. Im Rahmen seines Studiums erprobt er bereits die Wirkung beweglicher Elemente und 3-D-Objekte. Daran wird er 2003 anknüpfen, als er sich als freier Künstler ein Atelier in der Speicherstadt sucht. Davor liegen 35 Jahre bei der Hamburger Hafen- und Lagerhaus-AG. 1969 kommt Stempels zur Presseabteilung der HHLA und entwickelt unter anderem das Corporate Design des Hamburger Hafenbetreibers, darunter die blau-rote Farbgebung der Containerkräne, die monumental über dem Burchardkai in den Himmel ragen. Aus dem riesigen Fotoarchiv der HHLA fördert er so manchen Schatz zu Tage, am bedeutendsten die stimmungsvollen Aufnahmen des Fotografen Gustav Werbeck vom Hamburger Hafen aus den Dreißiger Jahren. In einer Hafenstadt ist Stempels auch zur Welt gekommen, allerdings nicht in Hamburg, sondern in Lübeck. Der Vater, ein niederländischer Schiffsbauingenieur, hatte dort seine deutsche Frau Ilse kennen gelernt. Drei Jahre später geht Pieter Hendrik Stempels mit seiner Familie zurück in die Niederlande. Wieder ist der Hafen nicht weit, dieses Mal der von Amsterdam. Die Affinität zum Wasser ist nicht zu leugnen, und zeitweise wohnen die Stempels’ wegen der großen Wohnungsnot sogar auf Hausbooten. Zunächst schicken sie ihren Sohn auf eine christliche Schule, doch die strengen Regeln liegen ihm nicht. Bereits im Alter von fünf Jahren weiß er, dass er später einmal Zeichner werden möchte. Die Eltern unterstützen ihn darin, auch als die Schule schließlich ganz abbricht, weil es, so sagt er heute rückblickend, „einfach nichts mehr brachte“.

Familienaltar: Mit den Flügeln des Altars öffnet sich die Tür zur Wohnung der Eltern. (2)

Familienaltar: Mit den Flügeln des Altars öffnet sich die Tür zur Wohnung der Eltern. (3)

Seine späteren Altäre werden den Eltern ein Denkmal setzen. Mit dem „Familien-Altar Marquardplatz 1“ (2008) verabschiedet er sich fast zärtlich von einer Wohnung in Lübeck und von ihrer letzten Bewohnerin, seiner Mutter. Anheimelnd und lebendig wirken die Bilder, die Stempels einen Monat nach ihrem Tod aufgenommen hat. Ihre Zigaretten liegen noch auf der Anrichte in der Küche, die Wäsche hängt im Bad. „Lange Jahre umschloss diese Wohnung eine ganze Familie wie eine Hülle und gab ihr Geborgenheit“, sagt Stempels. „Dort wurde gestritten, sich vertragen, eben gelebt.“ Altäre haben ihn schon immer fasziniert, obwohl er keineswegs religiös ist. Es sind die plastischen, ausdrucksstarken Bildergeschichten, die sie erzählen. Sein Flügelaltar „Siebentagestrauß“ etwa dokumentiert den Prozess des Welkens von roten Tulpen, die er an sieben aufeinander folgenden Tagen fotografiert hat. Gerade arbeitet er an einem Projekt mit historischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von seinem Vater. Wieder entsteht eine Art Altar.

Passanten kommen und gehen, aber die junge Schöne wartet vergeblich… (2)

Passanten kommen und gehen, aber die junge Schöne wartet vergeblich… (4)

Eine ganz andere Seite zeigen Stempels’ „Kleine Welten“. Figuren, eigentlich für Modelleisenbahnen gedacht, erleben absurde Geschichten in röhrenförmigen Plexiglasvitrinen, auf getrockneten und eingefärbten Zitrusfrüchten. Fundstücke sind hier eingebaut: Zweige, ein Dorschschädel, die Flügel eines Zitronenfalters, eine vergoldete Biene. Entstanden sind Momentaufnahmen der Einsamkeit und Beziehungslosigkeit. In „Waiting for a friend“ wartet eine Bikinischönheit auf einer verschnörkelten Holzbank unter einer Laterne vergeblich auf ihre Verabredung. In „Come together“ können die weiß gekleidete Tänzerin und der Tänzer im Frack gar nicht zueinander kommen, sie befinden sich auf zwei verschiedenen Orangenhälften. John Donnes viel zitiertes „Niemand ist eine Insel“ verwandelt sich hier in das genaue Gegenteil. Es sind böse kleine Höllen für Märklin-Figuren, die Stempels erschaffen hat, ironische und zum Teil bissige Kommentare.

Seine größeren Arbeiten zeigen dieselbe Ironie. Ein Spaziergang über einen Friedhof in Neuengland inspiriert Stempels zu einer Serie von Objekten. Sie versprechen einen „ungezwungenen Umgang mit der Endlichkeit allen irdischen Seins“, wie Stempels es satirisch nennt. „Die Leute kaufen im Friedhofs-Shop Plastikrosen-Arrangements, stecken sie in die Erde, und damit ist die Sache für sie erledigt.“

Er versteht es prächtig, Kitsch eine tiefere Dimension zu geben.
Spart lästige Friedhofsbesuche: Der fahrbare persönliche Grabstein. (2)

Spart lästige Friedhofsbesuche: Der fahrbare persönliche Grabstein. (5)

Also treibt er die Idee des bequemen Trauerns auf die Spitze: Ausgehend von den Fotos zweier Grabsteine, dekoriert mit Kunstblumen, die die Schriftzüge „Mom“ und „Dad“ bilden, erschafft Stempels „A Personal Graveyard“ (2007). Mit Marmorfolie beklebt, mit Rädern versehen und mit Deko-Rasen bepflanzt, kann der mobile Friedhof bequem mitgenommen werden, zum Picknick, zum Golfen, wohin auch immer. Es gibt auch Platz für einen CD-Player. Was Stempels nämlich eigentlich liebt, ist Kitsch, und er versteht es prächtig, diesem eine tiefere Dimension zu verleihen.
„Ob ich mit Objekten experimentiere, zeichne oder fotografiere: Es bringt einfach großen Spaß.“ Diese Begeisterung merkt man auch seinen Fotos an, auf denen er häufig Maritimes in Szene setzt: Schiffe, Hafenkräne, den Wandel von Speicherstadt und HafenCity. Eine Fotoserie von fast morbider Schönheit ist 1984 entstanden, als er den verfallenden Schuppen 2/3 am Sandtorkai, den letzten Schuppen Hamburgs aus der Kaiserzeit, kurz vor dessen Abriss fotografierte. Um historische Aufnahmen geht es immer wieder in seinen zahlreichen Buch-Projekten. Mit den Fotografien seines Vorgängers bei der HHLA, Gustav Werbeck, hat er gleich zwei Bücher gefüllt. Gestaltet hat er zudem einen opulent bebilderten Band über die Hamburger Hauptkirche St. Katharinen mit einem umfangreichen Kapitel zur Speicherstadt und ganz aktuell „Butt aus Altona“ zum 75jährigen Jubiläum der Fischmarkt Hamburg-Altona GmbH, die für die Stadt Hamburg den Fischereihafen verwaltet. Von Stempels stammen auch Idee und Konzept des Buches über den ersten Bauabschnitt der HafenCity, am Sandtorkai. Ein weiteres über den Dalmannkai ist in Arbeit.

Entwirft bewegliche Grabsteine, elektrische Liebesbarometer, Porträts der anderen Art: Manfred Stempels. (5)

Entwirft bewegliche Grabsteine, elektrische Liebesbarometer, Porträts der anderen Art: Manfred Stempels. (6)

Ans Aufhören denkt Stempels nicht. Im Juli 2010 wird er allerdings sein Atelier in der Speicherstadt aufgeben. „Ich glaube, 41 Jahre sind genug“, sagt er ohne Wehmut. „Ich möchte wieder mehr zeichnen und malen. Dafür habe ich auch zu Hause genug Platz.“ Dort lebt er mit seiner Frau Meike, einer Malerin und Zeichnerin, die er während des Studiums an der Armgardstraße kennen gelernt hat. Eine Speicherstadt ohne Manfred Stempels, kann man sich das überhaupt vorstellen? Ein Künstler mit Witz, viel subversiver Energie, aber auch Ernsthaftigkeit verlässt die Stadt der Waren – und damit einer ihrer jahrzehntelangen Chronisten.

Text: Bettina Mertl-Eversmeier, Nikolai Antoniadis, Fotos: Thomas Hampel (2, 6), Heinz-Joachim Hettchen (4), Manfred Stempels (1, 3, 5)
Quartier 09, März–Mai 2010 , Rubrik:    
« Zurück zur Übersicht