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Außen Backstein, innen Aura

Seit zwanzig Jahren sind die Deichtorhallen ein wunderschönes Ausstellungshaus mit internationalem Renommee. Jetzt haben sie einen neuen, vielversprechenden Direktor und große, verheißungsvolle Zukunftspläne.

Die Sammlerin Julia Stoschek setzt sich nicht selten selbst eindrucksvoll in Szene.

Die Sammlerin Julia Stoschek setzt sich nicht selten selbst eindrucksvoll in Szene. (1)

Erbsen? Ja, derzeit sind die tanzenden Erbsen im Video von Wolfgang Tillmans ein guter Grund, die Deichtorhallen am nordöstlichen Eingang zur wachsenden HafenCity aufzusuchen. Seit 1989 werden hier Wechselausstellungen gezeigt: mal zart-hintersinnige Konzeptkunst, mal die surrealen Werke der großen alten Bildhauerin Louise Bourgeois und auch mal die „atemberaubendste, chrompopquietschbeste aller möglichen Welten“ (SZ) des kalifornischen Bastel-Berserkers Jason Rhoades.
Im Moment aber locken Arbeiten wie der lustig-hintergründige Erbsen-Film von Wolfgang Tillmans in die Nordhalle. Gezeigt wird die Medienkunstkollektion der jungen Düsseldorfer Sammlerin Julia Stoschek: Videoarbeiten vom lockeren Augenschmaus eines 3-D-Films von Björk über die Knetgummi­groteske von Natalie Djurberg bis zum Experimentalfilm eines Bruce Nauman.
Ob im geheimnisvollen Halbdunkel der Stoschek-Videos oder in strahlend hellem Tageslicht – die Deichtorhallen gehören zu den schönsten Ausstellungshäusern in Europa. Zwischen 1911 und 1914 als Markthallen gebaut, mischen sich in ihrer Architektur Backstein und Stahlskelett, die ornamentalen Linien des Jugendstils und die funktionaleren Bauformen des 20. Jahrhunderts. „Eine Ausstellung etwa in der gigantischen Nordhalle mit ihrem einzigartigen Licht und dem Wechselspiel von erhabenen und intimen Momenten ist für alle Künstler der Welt verlockend“, so beschreibt Dirk Luckow, seit dem letzten Herbst Direktor der Institution, die Attraktivität seines Hauses.
Außerdem kann jede Schau mit mehreren hundert Metern mobiler Wände individuell gestaltet werden. „In Museen müssen sich die Kunstwerke nach den Wänden richten“, so Luckow, „bei uns richten sich die Wände nach den Kunstwerken. So hat jede Ausstellung die Aura eines Gesamtkunstwerks.“

Wenn alles gut geht, könnten die Deichtorhallen bald wieder zu den zehn bedeutendsten Ausstellungshäuern der Welt gerechnet werden – neben der Londoner Tate Modern, dem Pariser Centre Pompidou und dem Museum of Modern Art in New York.
Die ehemaligen Markthallen, gesehen vom Oberhafen

Die ehemaligen Markthallen, gesehen vom Oberhafen (2)

Derzeit zeichnet sich für die Deichtorhallen eine neue, aufregende Perspektive ab. Der Hamburger Jurist und Unternehmer Harald Falckenberg kann sich vorstellen, seine Sammlung eng an die Deichtorhallen zu binden. Sein Konvolut gilt als eine der bedeutendsten Sammlungen zeitgenössischer Kunst weltweit. Es residiert in grandiosen weißen Hallen auf fünf Etagen und 6.200 Quadratmetern in den Harburger Phoenix-Werken. Wenn alles gut geht, wird die Bürgerschaft Ende des Jahres entscheiden, jährlich 570.000 Euro bereit zu stellen, damit die Deichtorhallen die Harburger Räume mitbespielen und im Gegenzug über Falckenbergs etwa 2.000 Werke verfügen können.
Damit hätten die Deichtorhallen nicht nur eine Basis, um etwa Themenausstellungen, die in den letzten Jahren rar waren, zu bestücken. Sie kämen – durch mögliche Gegengaben – auch leichter an hochkarätige Leihgaben.

Ausstellung des Gesamtkunstwerkers Jonathan Meese im Jahr 2006

Ausstellung des Gesamtkunstwerkers Jonathan Meese im Jahr 2006 (3)

Sie würden vergleichbar mit dem Hamburger Bahnhof in Berlin, der mit den Sammlungen Marx und Flick punkten kann. Schließlich ist die südliche Deichtorhalle seit 2005 ein Schaufenster für Fotografie, das aus der Dauerleihgabe der großartigen Fotosammlung des Fotografen F. C. Gundlach und dem Spiegel-Bildarchiv schöpfen kann und Fotoausstellungen so perfekt und elegant präsentiert, wie es kaum irgendwo sonst geschieht. Obendrein wüchsen die Chancen, dass die wunderbar eigensinnige Falckenbergsche Kunst dauerhaft in Hamburg bleiben könnte. Und vielleicht würden die Hallen wieder unter die zehn wichtigsten Kunsthäuser der Welt gerechnet – neben der Tate Modern, dem Centre Pompidou und dem MoMA. So weit vorn waren sie auf jeden Fall schon einmal. 1989 war die Eröffnungsschau „Einleuchten“ von Harald Szeemann eingerichtet worden, der seit Ausstellungen wie „When Attitudes Become Form“ oder „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ als legendärer Kunstvisionär galt. Sie glänzte mit Größen wie Beuys oder Dan Flavin und stellte damals kommende Stars wie Rachel Whiteread oder Robert Gober vor.

In diesem Sommer geht der Blick in der Südhalle gen Osten: Sergey Bratkovs Fotos berichten vom Alltag in der postsowjetischen Gesellschaft, und der Japaner Nobuyoshi Araki gewährt Einblick in die Liebesgeschichte seines Lebens.

Für ein entsprechend anspruchsvolles Programm aber werden die Hallen von der Kulturbehörde finanziell nicht hinreichend ausgestattet. So gehört die Suche nach Allianzen wesentlich zu den Aufgaben ihres Direktors. Mit mehreren hunderttausend Euro von der Siemens Kulturstiftung etwa wird Luckow 2011 eine Schau zum „Wunder“ in der Kunst- und Kulturgeschichte zeigen können. Außerdem ist ein Förderverein auf der Basis von Wirtschaftsunternehmen geplant. Möglich wäre auch eine Kooperation mit dem HSV. Warum sollte man nicht Wochenendtouristen ein Programm bieten, das sie abends in die Oper, morgens in die Deichtorhallen, nachmittags zum HSV-Spiel führt?
Schließlich sind die Ausstellungen der Deichtorhallen nicht nur für Insider interessant. Ab dem 18. Juni etwa wird Sergey Bratkov gezeigt, ein russisch-ukrainischer Fotograf, der den Alltag seit der Auflösung der Sowjetunion ungeschminkt und doch poetisch dokumentiert.

Nobuyoshi Araki, aus der Serie „My Wife Yoko“, 1968/1976. s/w-Fotografie, 25 x 30,4 cm. Österreichische Fotogalerie, MdM Salzburg

Nobuyoshi Araki, aus der Serie „My Wife Yoko“, 1968/1976. s/w-Fotografie, 25 x 30,4 cm (4)

Parallel dazu wird Nobuyoshi Araki in intimere Welten führen. Die Schau stellt die berühmten Bilder von seiner Hochzeitsreise („Sentimental Journey“, 1971) neben die Serie „Winter Journey“ (1989/90), mit denen der japanische Fotograf das Sterben seiner Frau begleitete. Araki, so hat der Regisseur Jim Jarmusch einmal gesagt, versuche „zu fotografieren, was nicht fotografiert werden kann: den Klang einer lachenden Mädchenstimme, die Farbe des Schnees, den Geruch von Sex, die Dunkelheit.“
In die Nordhalle wird ab 12. August im Rahmen des Sommerfestivals das White Bouncy Castle einziehen. Die riesige Hüpfburg ist eines der „choreografischen Objekte“ des Tänzers und Choreographen William Forsythe. Ganz erhaben wird das Gummischloss auf weißem Teppich präsentiert: nicht als simples Spaßinventar, sondern als kinetische Installation. Wer dann mitmacht und sich selbst viele Meter hoch hinauf katapultiert, der wird sich vielleicht an die hüpfenden Erbsen im Video von Tillmans erinnern, ganz sicher aber wird er die Deichtorhallen sehen wie niemals zuvor.

Björk (Encyclopedia Pictura): Wanderlust (3-D), 2008. Stereoskopische, digitale Videoinstallation. Edition 6. Courtesy of One Little Indian

Björk (Encyclopedia Pictura): Wanderlust (3-D), 2008. Stereoskopische, digitale Videoinstallation. Edition 6. (5)

Rechts: Sergey Bratkov: Sasha, aus der Serie „Kids“, 2000 (Kinder). C-Print, 40 x 27 cm. Courtesy of Regina Gallery, Moskau. Links: Sergey Bratkov: Mickey Mouse aus der Serie „Juvenile Detention“, 2001 (Jugendhaft). Lambda Print, 120 x 90 cm. Courtesy of Regina Gallery, Moskau

Aus der Ausstellung von Sergey Bratkov. Links: Sasha, aus der Serie „Kids“, 2000 (Kinder). C-Print, 40 x 27 cm. Rechts: Sergey Bratkov: Mickey Mouse aus der Serie „Juvenile Detention“, 2001 (Jugendhaft). Lambda Print, 120 x 90 cm. (6)

Deichtorhallen, Deichtorstraße 1, www.deichtorhallen.de
Julia Stoschek Collection: bis 25.7.; Sergey Bratkov, Nobuyoshi Araki: 18.6.–29.8.; White Bouncy Castle: 12.8.–12.9.

Text: Karin Schulze, Fotos: (1) Max von Gumppenberg und Patrick Bienert/COLORSTORM, (2) Heinz-Joachim Hettchen, (3) Jan Bauer/Courtesy CFA, Berlin, (4) Nobuyoshi Araki/Österreichische Fotogalerie, MdM Salzburg, (5) Björk/Courtesy of One Little Indian, (6) Sergey Bratkov/Courtesy of Regina Gallery, Moskau
Quartier 10, Juni–August 2010 , Rubrik:    
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