Archäologie der Moderne
Für die Errichtung des Überseequartiers wurden die Spuren früherer Bebauungen rund um das denkmalgeschützte Amt für Strom- und Hafenbau getilgt.
Im Überangebot der architektonisch-ambitionierten Angriffe auf die menschliche Netzhaut im Übersee-
quartier plötzlich nur roher, geschwärzter Ziegel, einfach und schön patiniert. So baute man im 19. Jahrhundert Gefängnisse, Siechenhäuser, Turn-
hallen – und das 1885/86 errichtete Alte Hafenamt. Ein melancholischer Ort, gerade jetzt und hier, ein Transporter in vergangene Zeiten. Aber Bauschild und HafenCity-Website versprechen für das Areal jetzt den „gastronomischen Kern für die HafenCity“: Im Inneren des denkmalgeschützten Gebäudes ist Gastronomie geplant, draußen sollen bald 15 Marktstände ihre Waren anbieten, ab Frühsommer zunächst auf dem Überseeboulevard, nach Abschluss der Sanierungsarbeiten am Altbau auf den angrenz-
enden Freiflächen. Die Sanierung sowie die Erweiterung um einen schlanken Wohnturm mit zwölf Wohnungen plant das Münster’sche Architektenbüro Bolles + Wilson. Der Chronist aber verweigert sich, ohne weiteres nach vorn zu denken. Im Jahre 1994 schrieb der Wiener Architekturkritiker Dietmar Steiner, der sich selbst als byzantinisch, binnenländisch und katholisch bezeichnete, im Hamburger Jahrbuch: „Wir befinden uns also mitten in der hoffnungsvollen Zukunft des Hamburger Hafens, die so ratlos dynamisch daherkommt, wie die aller anderen Hafengebiete auch, mit der inzwischen sakrosankt gestellten Speicherstadt im Rücken, im Niemandsland einer innerstädtischen Peripherie zukünftiger Entwicklungen. Der einzige stabile Faktor ist und bleibt die Bürokratie: Strom- und Hafenbau mit seinem Direktionsensemble.“ Mit diesem Ensemble waren Teile aus fünf Epochen gemeint. Der damals jüngste, die so genannte HT-Insel (HT für Hafentechnik), war als erster Preis in einem Wettbewerb gerade von den Hamburger Architekten Dinse, Feest und Zurl fertiggestellt worden.
Ein metallener, farbenfroher Bau, ein würdiger Enkel des altwürdigen „Backstein-Opas“ aus der Gründerzeit. Architekten- und Designstars jener Jahre wie Rem Koolhaas und Massimo Iosa Ghini wurden in den Fachgazetten zum Vergleich herangezogen. Das Büro- und Arbeitshaus wirkte frisch, ein wenig provokant durch seine Wellblech-Brüstungen, doch passend zum technoiden Image des wachsenden Container-Hafens. Mit einer architektonischen Sprache, die Aufbruch beschreibt, was die heutigen Neubauten der HafenCity so konsequent nicht überall einlösen. Doch bis auf den Urbau mussten alle neueren Teile dem Genius Loci weichen – auch das „schöne, engagierte Haus, das wie ein Labor wirkt“, so Dietmar Steiner.
Es war über eine Brücke mit dem Altbau verbunden, wegen des notwendigen Hochwasserschutzes. Dieser und die ambitionierten Planungen für die City der HafenCity haben schließlich diesem Bauzeugen aus den 1990er Jahren den Garaus gemacht, weil er mit dem Erdgeschoss tief unter der neuen Straßenoberfläche gelegen hätte. Der Kommentar im Sommer 2011: Schade eigentlich, denn ob die Nachfolgebauten wirklich besser sein können, wird man abwarten müssen. Manchmal ist hektische Stadtentwicklung grausam, wenn der Großvater den Enkel überlebt.