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Kampf dem Kubus

Manche nennen seine Entwürfe populistisch, für andere sind sie reine Ästhetik. Er selbst bezeichnet seine Arbeit als eine Art modernen Barock – im Überseequartier hat Erick van Egeraat vorgeführt, wie seine Architektur aussieht.
Die Fassade des Sumatra-Kontors – hier ein Blick in den den Durchgang zum Innenhof – ist um bis zu 5,5 Grad nach außen geneigt.

Die Fassade des Sumatra-Kontors – hier ein Blick in den Durchgang zum Innenhof – ist um bis zu 5,5 Grad nach außen geneigt. (1)

Schönheit liegt bekanntlich im Auge des Betrachters. Deshalb wird der Begriff von Architekten gemieden. Ohne praktischen Nutzen ist sie Dekoration, als Sache des Geschmacks ein unzuverlässiger Ratgeber für Entwürfe. Gleichzeitig ist sie für die meisten Menschen, die mit Architektur leben, aber wenig über sie wissen, ein maßgebender Grund, die Arbeit von Architekten entweder zu loben oder zu verdammen. Niemand will in einer Stadt leben, die nachhaltig und funktional vorbildlich baut, aber hässlich ist. Deshalb ist Schönheit für viele ein schwieriges Thema. Nicht für Erick van Egeraat: Er hat sich entschieden, sie entgegen aller theoretischen Diskurse zu einer tragenden Säule seiner Entwürfe zu machen.
Noch vor Abschluss seines Studiums gründete er 1983 zusammen mit vier Kommilitonen das Büro Mecanoo im niederländischen Delft. Bereits ihr erstes Projekt, ein Wohnkomplex in Rotterdam, sorgte für einiges Aufsehen, weil die jungen Architekten damit demonstrierten, dass sozialer Wohnungsbau nicht nur günstig, sondern auch schön sein kann. Noch heute betont van Egeraat gerne, dass Architektur schön und modisch sein müsse. An ihr müsse sich ablesen lassen, dass der Architekt den Geschmack der Zeit wertschätze. Es stört ihn nicht, dass einige seiner Kollegen deshalb die Nase rümpfen. Dabei kann man an den frühen Arbeiten deutlich den Einfluss moderner Architekturtheorie ablesen, etwa an dem Wohnhaus, das er zusammen mit seiner ersten Frau und Mecanoo-Mitbegründerin Francine Houben in Rotterdam entwarf. Nach und nach beschritt das Büro aber neue Wege und avancierte schließlich zusehends zu einem gefragten Avantgarde-Büro. Van Egeraat ging das aber nicht weit genug. Er suchte nach einer Architektursprache, die sich sichtbarer von anderen unterschied und die das ausdrücken konnte, was er selbst heute als modernen Barock bezeichnet. Die Reduzierung auf das Notwendige, die viele Architekten zur Königsdisziplin moderner Baukunst erheben, ist in seinen Augen vollkommen überbewertet. Er sucht nicht das Minimale, sondern das Gegenteil: Er will Üppigkeit und Bewegung, reiche und komplexe Formen. Weil dies die Handschrift ist, die er führen möchte, verlässt er 1995 zusammen mit der Hälfte der Belegschaft das Gemeinschaftsbüro Mecanoo und gründet Erick van Egeraat Associated Architects (EEA). Sein Ziel ist, auch jenseits der Grenzen der Niederlande zu bauen. Dabei will er nicht nur schöne Architektur schaffen, sondern diskutiert ganz ungeniert über die Sinnlichkeit, auch wenn das vielleicht nicht unbedingt ein Begriff ist, der den Laien an Gebäude denken lässt: Wie sinnlich kann etwa eine Fachhochschule sein? Manche sagen: Ziemlich.

Der zweiteilige Gebäudekomplex Sumatra-Kontor im Überseequartier von Süden.

Der zweiteilige Gebäudekomplex Sumatra-Kontor im Überseequartier von Süden. (2)

Ein Wal auf dem Dach

Zu einem seiner ersten Solo-Auftritte wurde van Egeraat nach Utrecht gerufen, um dort einem lieblosen Entwurf für den Neubau der Schule für Mode und Grafikdesign neues Leben einzuhauchen. Die Schule wurde in der geplangten Form errichtet, aber von EEA anschließend mit einer gläsernen Haut umhüllt. Diese Glashaut, so van Egeraat, liefere „wie ein Seidenschleier eine mysteriöse und mehrdeutige Definition, indem sie offenbart, was dahinter liegt“, nämlich das technische Innenleben des Gebäudes: Bauglieder, Holz, Mauerwerk und Steinwolle. Ist das sinnlich?
Das Projekt, mit dem van Egeraat EEA aber endgültig etablierte, war eine Arbeit, die er noch in seiner Zeit bei Mecanoo ausführte, nämlich die Niederlassung der ING Bank in Budapest (1992–1994). Schon 1990 war er einer Einladung des niederländischen Wirtschaftsministeriums nach Prag gefolgt, das den Austausch zwischen tschechischen und niederländischen Architekten im Wohnungsbau fördern wollte. In diesem Zusammenhang begegnete er Paul Koch von ING Real Estate, mit dem er bereits früher an Stadterneuerungsprojekten in Rotterdam gearbeitet hatte und der ihn nun einlud, für ING zu arbeiten. Bei seinem ersten Auftrag stockte van Egeraat den Neo-Renaissance-Bau, in dem die ING ihren Sitz hatte, durch ein organisches Gebilde auf, ein Konferenzraum in Form eines Wals mit Holzrippen und Glashaut. Dieser Budapester Wal wurde zum Auftakt einer langjährigen Zusammenarbeit zwischen der ING-Gruppe und van Egeraat. So folgte eine Erweiterung der Bank in Budapest (1994–1997), danach der Wohnkomplex Villa Bianca in Prag (1997–2003), das Hauptquartier der ING Bank and NNH Insurance Company in Budapest (2001–2004) und schließlich van Egeraats Mitarbeit am Masterplan zum Überseequartier in der Hamburger HafenCity, zu dessen Realisierung sich ING Real Estate mit Groß & Partner und SNS Property Finance zu einem Konsortium zusammengeschlossen hatte, für das van Egeraat auch das Sumatra-Kontor und die Waterfront Towers entwarf. Besonders am ING-Hauptquartier lässt sich sehr deutlich das architektonische Vokabular von van Egeraat ablesen. Das dreiteilige Gebäudeensemble, durch große gläserne Atrien verbunden, ist mit vertikalen und horizontalen Paneelen verkleidet, die aussehen, als würden sie das bewusst schief entworfene Gebäude davor bewahren, auseinanderzufallen. Im Grunde sieht es aus wie die Kulisse aus einem Tim-Burton-Film und demonstriert eindringlich van Egeraats Bestreben, sich von herrschenden Vorstellungen der Symmetrie und Ordnung zu lösen und stattdessen Asymmetrie und Disharmonie in die Architektur einführen.

Aufbruch in den Osten

In Budapest begann van Egeraat nicht nur seine Zusammenarbeit mit ING, sondern auch seinen Weg nach Osteuropa, der ihn schließlich nach Russland führte. Zu dieser Zeit, in den frühen 1990er Jahren, war unter Architekten noch die Auffassung verbreitet, es sei eigentlich nicht möglich, in Moskau zu bauen: zu viel Korruption, zu wenig Rechtssicherheit. Van Egeraat hingegen hatte den Eindruck gewonnen, dass man im Osten Europas in wesentlich höherem Maße bereit war, sich auf Neues einzulassen. Was an die sozialistische Vergangenheit erinnerte, wurde verworfen. Man wünschte sich, die gesellschaftlichen Veränderungen auch in der gebauten Umwelt sichtbar zu machen. Neue Gebäude sollten attraktiv sein. Budget und Funktionalität waren, wie van Egeraat erfreut feststellte, nicht länger Thema Nummer Eins. Vielmehr traten die optische Wirkung und die Botschaft, die Gebäude der Außenwelt vermitteln sollten, in den Vordergrund.

Das Hauptgebäude der biomedizinischen Fakultät in Utrecht (2005), Foto: (Designed by) Erick van Egeraat

Das Hauptgebäude der biomedizinischen Fakultät in Utrecht (2005). (3)

Was van Egeraat als größere öffentliche Akzeptanz gegenüber dem Exzentrischen und Neuen deutete, halten andere für größere Gleichgültigkeit der Bauherren gegenüber der Öffentlichkeit. Wie etwa in St. Petersburg, wo Gazprom 2006 weltweit für Entsetzen sorgte, indem es inmitten des UNESCO-Weltkulturerbes eine gigantomanische Gazprom-City plante. Oder in Moskau, wo EEA den Zuschlag für den Bau von fünf Hochhäusern mit Luxusapartments in einem der teuersten Bezirke im historischen Zentrum erhielt. Auf den Fassaden sollten großflächig und farbenfroh bedeutende russische Avantgarde-Künstler zitiert werden, deren Gemälde im gegenüberliegenden Novy-Tretjakow-Museum ausgestellt sind: Wassily Kandinsky, Kasimir Malewitsch, Alexander Rodtschenko, Ljubow Popowa, Alexandra Exter. Diese Pläne stießen, obgleich von Moskaus autokratischem Bürgermeister Juri Luschkow befürwortet, auf starke öffentliche Kritik. So wurde geäußert, die Pläne seien „so vulgär wie die Leute, für die sie gemacht sind“. Gemeint waren jene, die sich in Russland einen Quadratmeterpreis von umgerechnet 9.000 Euro leisten konnten. Außerdem sollte van Egeraats quietschbunter Hochhauskomplex direkt am Ufer der Moskwa stehen und hätte die Sicht auf eine Reihe alter Kirchen verstellt, die Kunsthistoriker zu den Perlen russischer Architektur zählen. Die spektakulärsten Pläne waren aber jene zur Federation Island, gewissermaßen die russische Antwort auf die Palm Islands in Dubai, die van Egeraat 2007 Wladimir Putin persönlich vorstellte. Bei Sotschi am Schwarzen Meer, wo 2014 die Olympischen Winterspiele ausgetragen werden, sollte eine künstliche Inselgruppe aufgeschüttet werden, die die Geografie der russischen Föderation einschließlich ihrer Flussläufe nachbildet. Anders als die reale Vorlage würde diese Föderation aber flächendeckend mit Strandresidenzen, Luxusvillen und exklusiven Klippen-Häusern bebaut werden. Geschätzte Baukosten: über 7 Milliarden US-Dollar.

(Designed by) Erick van Egeraat

Zu diesem Zeitpunkt befand sich Erick van Egeraat auf dem Höhepunkt seines Erfolgs. Er war Anfang 50, unterhielt Büros in Rotterdam, Budapest, London, Prag und Moskau und beschäftigte knapp 150 Personen. Hatte er mit dem Bau von Sozialwohnungen in den Niederlanden angefangen, so plante er inzwischen Luxusapartments und Villen für russische Millionäre. Finanzkrise? Einbrechender Immobilienmarkt? Nicht für jedermann. Der Markt für Wohnungen und Häuser im Wert von über 10 Millionen US-Dollar schien von der globalen Finanzkrise unberührt. Außerdem hatte Moskau 2008 New York City als Stadt mit den meisten Milliardären abgelöst: 74 in Moskau, 71 in New York. Russland war ein bedeutender Markt, in dem EEA an 15 aktuellen Projekten arbeitete. Und dann, auf einmal, geschah das, was sich heute gelegentlich so liest: Um den Anforderungen besser entsprechen zu können, die an ein so unterschiedliches Portfolio gestellt werden, habe van Egeraat sein Büro Anfang 2009 umstrukturiert. Mit anderen Worten: Er war bankrott. Am 20. Januar 2009 musste er für seine global operierende Firma EEA Insolvenz anmelden, nachdem mehrere Großprojekte infolge der Finanzkrise auf Eis gelegt worden waren. Die Krise brachte zur selben Zeit auch die Berliner Niederlassung des britischen Stararchitekten Norman Foster mit 76 Mitarbeitern zu Fall. Man muss allerdings bei aller Dramatik auch feststellen, dass viele Architekten, von regional arbeitenden bis zu den ganz großen wie Rem Koolhaas oder Jean Nouvel, irgendwann einmal das finanzielle Ende ihrer Karriere vor Augen hatten. Kein Beinbruch also. Tatsächlich konnte van Egeraat schon wenige Tage später ankündigen, seine Aktivitäten unter neuem Namen fortzusetzen: (Designed by) Erick van Egeraat.

Erick van Egeraat und Wladimir Putin begrüßen sich im Zuge  der Präsentation des Projekts Federation Island in Sotschi  am Schwarzen Meer (2007). Visualisierung und Foto: (Designed by) Erick van Egeraat

Erick van Egeraat und Wladimir Putin begrüßen sich im Zuge der Präsentation des Projekts Federation Island in Sotschi am Schwarzen Meer (2007). (4), (5)

Sein neues Büro konnte auch verhältnismäßig schnell wieder bedeutende Aufträge gewinnen, die an Exzentrik nichts zu wünschen übrig lassen. So wurde im Herbst 2010 der Bau einer Müllverbrennungsanlage im dänischen Roskilde genehmigt, oder besser: einer Müllverbrennungsikone. Sie gleicht einem gewaltigen bronzefarbenen Brontosaurus mit Lochfassade und 100 Meter hohem Hals, einem Turm, der bewusst als Referenz zur Kathedrale von Roskilde gemeint ist und nachts von innen zu glühen scheint. Auch in Russland ist van Egeraat wieder aktiv, wie sich bereits aus seinem Internetauftritt ablesen lässt, der dem Besucher seiner Webseite die Wahl zwischen Englisch und Russisch lässt. Dort wurde zum Beispiel nach seinen Entwürfen der Schach-Club von Khanty-Mansiysk gebaut. Wer es nicht weiß: Khanty-Mansiysk war im September 2010 Austragungsort der 39. Schach-Olympiade. Van Egeraat entwarf dafür ein Gebäude, das dem Kopf eines Schachspielers nachempfunden ist: Nach außen emotionslos und ohne Bewegung, im Inneren erhitzt und aufgewühlt, umgesetzt durch eine kühle Fassade aus Zinkschuppen und eine warme Innenausstattung, in der viel Holz verbaut wurde. In Surgut baute er das Vershina Trade & Entertainment Center, das im Dezember 2010 eröffnete, im Westen Moskaus erhielt er den Auftrag für den Bau der Corporate University for Sberbank Russia. Das bedeutendste Projekt, für das van Egeraat kürzlich den Zuschlag erhielt, ist aber die VTB Arena in Moskau.

Als die FIFA bekannt gab, dass die Fußballweltmeisterschaft 2018 in Russland stattfinden werde, stand auch fest, dass van Egeraat seinen Stadion-Entwurf realisieren kann. Genau wie die Chinesen, die für die Olympiade Herzog & de Meuron mit dem Bau eines spektakulären Stadions beauftragten, des Vogelnests in Peking, wollen auch die Russen nicht kleckern. Von den 13 geplanten neuen Arenen soll van Egeraat zusammen mit seinem russischen Partner Mikhail Posokhin einen gewaltigen Sport- und Kulturkomplex auf dem Gelände des jetzigen Dynamo-Stadions errichten, das mit einem Investitionsvolumen von 500 Millionen Euro eines der größten Bauvorhaben in Russland ist. Der Wettbewerbs-Jury hatte noch Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow vorgesessen, der einen Monat nach der Vergabe des ersten Preises an van Egeraat per Dekret des Staatspräsidenten aus dem Amt entlassen wurde.

Zwischen dem Kreuzfahrtterminal und dem Science Center sollen unmittelbar an der Elbe die beiden Waterfront Towers stehen. Visualisierung: Überseequartier Beteiligungs GmbH

Zwischen dem Kreuzfahrtterminal und dem Science Center sollen unmittelbar an der Elbe die beiden Waterfront Towers stehen. (6)

Diese Aufsehen erregenden Projekte dürfen nicht dazu verleiten, in van Egeraat einen populistischen Dienstleister zu sehen, der für hohe Honorare bedenkenlos sensationelle Architektur für die Reichen und Mächtigen schafft. In seinen Arbeiten zeigt sich immer, dass seine Visionen keineswegs oberflächlich sind oder allein durch banale Ästhetik glänzen wollen. Sie stehen immer im Kontext zu ihrer Umwelt, wenngleich sie eine unverwechselbare Handschrift tragen: sein Hang zu Asymmetrien, zu schiefen, leicht kippenden Strukturen, zu Horizontalen, Vertikalen und Diagonalen, die die Fassaden gelichzeitig zerschneiden und zusammenhalten. Dieses Repertoire ist deutlich auch in der HafenCity zu finden. Der Überseeboulevard, wenn auch nicht seine alleiniger Entwurf, entspricht mit seinem unregelmäßigen, scheinbar zufälligen Verlauf sicherlich seiner Vorstellung von einer Auflösung traditioneller Ordnungen. Die Waterfront Towers, die an prominenter Stelle zwischen Science Center und Kreuzfahrtterminal an der Elbe geplant sind und aussehen wie die Türme aus einem Jenga-Spiel, sprechen ebenfalls diese Sprache. Der Eingangsbereich des Sumatra-Kontors vermittelt den Eindruck, als sei eine Gebäudeecke aus der schiefen Fassade sauber herausgeschnitten. Dieses Stilmittel findet sich auch an der Biomedizinischen Fakultät der Universität Utrecht, für deren Entwurf er 2007 den niederländischen Rietveldprijs erhielt. Das Projektkonsortium des Überseequartiers hat van Egeraat bestellt und bekommen.

Text: Nikolai Antoniadis, Fotos und Visualisierungen: (Designed by) Erick van Egeraat (3, 4, 5), Thomas Hampel (1, 2), Überseequartier Beteiligungs GmbH (6)
Quartier 14, Juni–August 2011 , Rubrik:    
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