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Ein Kommen und Sehen

Die Entwicklung der HafenCity und die Öffnung der Speicherstadt haben die beiden Viertel zu beliebten Touristenzielen gemacht.

Dieser Besucher hat sich vom Hamburger Wetter nicht abhalten lassen, in die HafenCity zu kommen.

20 Uhr, Kaiserkai. Ein junger Mann, die Schultern hochgezogen, den Kopf tief gegen den kalten Wind gesenkt, trägt seine Einkäufe nach Hause. Weiter die Straße hinunter eilt eine Frau zur Bushaltestelle. Nachdem die letzten Geschäfte schließen, bieten die menschenleeren Straßen wenig Anlass, ausgerechnet über den Fremdenverkehr nachzudenken. Oder gerade doch. Denn jetzt, im Winter, wird ganz besonders deutlich, wie stark die HafenCity im Takt der saisonalen Besucherströme schlägt.
Das Thema Städtetourismus hat seit den frühen 80er Jahren nicht nur an der Elbe, sondern im ganzen Europa an Bedeutung gewonnen. Breitere Schichten der Bevölkerung der westlichen Industriestaaten begannen, ein stärkeres kulturelles Interesse zu entwickeln, nachdem der Massentourismus griechische und spanische Fischerdörfer in Hochhausburgen verwandelt hatte. Mehr und mehr Urlauber suchten nach neuen Erlebnissen und anderen Gelegenheiten der Zerstreuung als eine Woche Sonnenbaden an der Costa Brava. Immer mehr fuhren immer öfter in den Urlaub, dafür nicht mehr so lange. Schließlich machte es der Fall der innereuropäischen Zoll-, dann auch der Währungsgrenzen und schließlich die Verbesserung der allgemeinen Mobilität immer leichter, schnell und komfortabel zu reisen. Auf diesem Wege wurde der Tourismus für viele Städte zu einem Wirtschaftsfaktor, der schnell an Bedeutung gewann.

Mit Blick auf die gewaltige Baustelle der Elbphilharmonie am Ende des Kaiserkais besteigen Touristen an einem sonnigen Tag eine Barkasse im Sandtorhafen.

So auch in Hamburg. Zwar hat die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise dafür gesorgt, dass viele Deutsche auf ihre Kurzurlaube verzichteten und auch die Anzahl von Geschäftsreisen kurzfristig zurückging, doch zeigt die Gesamtentwicklung der vergangenen zehn Jahre einen deutlichen Aufwärtstrend. Die Zahl der Übernachtungen – der Lackmustest im Tourismusgeschäft – hat sich zwischen 2001 und 2010 mit knapp 90 Prozent fast verdoppelt. Damit liegt die Hansestadt bundesweit und auch im europäischen Vergleich deutlich an der Spitze. Hamburgs Tourismus in Zahlen lautet für das vergangene Jahr: 4,7 Millionen Besucher verbrachten 8,95 Millionen Nächte in 312 Hotels und Pensionen, ein durchschnittlicher Aufenthalt von knapp zwei Tagen pro Besucher, also ein kurzes Wochenende. Das hört sich zunächst wenig spektakulär an. Ergänzt um die Angaben zur gesamten Metropolregion, also dem unmittelbaren Umland Hamburgs, die vom Deutschen Wirtschaftswissenschaftlichen Institut für Fremdenverkehr (DWIF) ermittelt wurden, klingt es schon anders: Knapp 700.000 Besucher pro Tag, die über das gesamte Jahr hinweg einen Umsatz von über 11 Milliarden Euro generieren und auf diese Weise über 180.000 Menschen ihr Einkommen sichern.

Appetizer für Kulturhunger

Ganz entscheidenden Einfluss auf die Wahl Hamburgs zum Ziel einer Städtereise haben in der offiziellen Lesart herausragende Großprojekte, unter ihnen zuvorderst die HafenCity, und in ihr wiederum die Elbphilharmonie. Kein Dokument des Senats, kein Bericht der Kulturbehörde, kein Foyer der Hamburg Tourismus GmbH, in dem sie nicht erwähnt wird. Für den Hamburger Senat ist gerade sie das „Symbol für die kulturelle Vielfalt“, eine „international stark vermarktbare Landmarke“, die „weltweit das Stadtprofil und das Image Hamburgs“ schärft.

Wessen Münze auf dem Dalben an der Wandbereiterbrücke liegen bleibt, hat einen Wunsch frei.

Ihr wird eine so immense Bedeutung für den Fremdenverkehr beigemessen, dass bereits ihre Baustelle zu einer begehbaren Sehenswürdigkeit entwickelt worden ist, die jedes Jahr 14.000 Menschen bei Führungen oder Projektpräsentationen aufsuchen. Nicht zuletzt ihr ist es zu verdanken, dass sich in Hamburgs HafenCity der Begriff des Baustellen-Tourismus etabliert hat, ohne dass darin die geringste Ironie zu erkennen wäre. Eine nachvollziehbare Verbindung im Sinne einer mathematischen Gleichung ist allerdings schwer herzustellen. Erhebungen wie sie aus der „Musikmetropole München“ bekannt wurden und die ganz konkret 580.000 von insgesamt 9,8 Millionen Übernachtungen im Jahr 2008 ursächlich auf das vorhandene Klassik-Angebot zurückführen konnten, liegen in Hamburg nicht vor. Gleichwohl hat sich auch die Hansestadt sehr lange und sehr intensiv mit dem wirtschaftlichen Stellenwert ihrer Leuchttürme beschäftigt: Warum ist die Elbphilharmonie wichtig? Wird es gelingen, durch sie die Position Hamburgs im Städtewettbewerb zu verbessern? Was kann das Projekt in der Stadt selbst verändern? Diese Fragen sind längst zugunsten des Projekts beantwortet worden; niemand würde eine halbe Milliarde Euro in die Hand nehmen, nur weil er ein gutes Gefühl hat. Die Elbphilharmonie ist der Imagefaktor Nummer Eins, wenn es darum geht, den Blick kulturhungriger Städtetouristen an die Elbe zu lenken. Versteht sich eine Stadt als Produkt, das mit anderen im Wettstreit um Bewohner, Beschäftigte und Besucher steht, dann wird ihr Image zu einem wichtigen Faktor. Paris ist die Liebe, Mailand ist Mode, Frankfurt Hochfinanz. Duisburg? Schon schwieriger. Palermo? Oder Athen? Reden wir nicht darüber. Hamburg arbeitet seit geraumer Zeit an seinem Profil als Kulturmetropole. Die Elbphilharmonie hat dabei großes Gewicht. Aber nicht nur sie. Die stärksten Magneten sind neben Hagenbecks Tierpark die Musicals von Stage Entertainment mit bis zu zwei Millionen Besuchern pro Jahr und das Miniaturwunderland in der Speicherstadt, das jedes Jahr von einer Million Menschen aufgesucht wird, von denen 900.000 nicht aus Hamburg und über 100.000 nicht aus Deutschland kommen. Bereits der Kulturwirtschaftsbericht, der 2006 an der Elbe erstellt wurde, zählt Hamburg mit täglich 50.000 Besuchern und einem starken kulturellen Angebot zu den führenden Kulturmetropolen in Europa.

Anwohner, Arbeitnehmer und Besucher teilen sich die HafenCity während der Saison.

In der Speicherstadt und auf dem Großen Grasbrook haben sich seit der Entscheidung für die HafenCity und dem Fall des Zollzauns zahlreiche Kulturadressen etabliert, die jedes Jahr große Besucherströme anziehen: 60.000 kommen jährlich ins Speicherstadtmuseum, 50.000 ins PROTOTYP, ins Hamburg Dungeon fast 300.000, ins Zollmuseum 100.000, ebensoviele ins Internationale Maritime Museum, viele weitere ins Spicy‘s Gewürzmuseum oder auch in den Traditionsschiffhafen, der letztlich nichts anderes ist als eine Art Freilicht-Museum.

Knapp 700.000 Besucher pro Tag, die über das gesamte Jahr einen Umsatz von 11 Milliarden Euro generieren.

Hinzu kommen einmalige oder wiederkehrende Events wie der „Hamburger Jedermann“, der gewissermaßen als ein Pionier bei der Erschließung des Areals für Kulturtouristen gelten kann, Elbjazz, das Harbour Front Festival oder auch die QUEEN MARY 2, deren Ankunft in Hamburg jedes Mal ein treues Stammpublikum zum provisorischen Kreuzfahrtterminal an die Elbe führt. Auch wenn die offiziellen Zahlen für die Anläufe von Kreuzfahrtschiffen in Hamburg in den vergangenen Jahren regelmäßig nach unten und nach oben korrigiert wurden, gab es genügend Anmeldungen, um das zweite Terminal am Fischereihafen in Altona in Betrieb zu nehmen. Langfristig erhofft sich die Stadt 300.000 Kreuzfahrtgäste jedes Jahr. Aber auch heute schon haben die Tourismus-Statistiken einiges in Bewegung gebracht. Zwischen 1998 und 2008 stieg die Anzahl von Betten in Hotels und Pensionen um 46 Prozent, die Anzahl der Übernachtungen um 67 Prozent. Im Wesentlichen hat das zu höheren Auslassungen geführt, aber auch zu Plänen für neue Hotels. In der HafenCity hat mit dem 25hours im vergangenen Sommer das erste Hotel eröffnet. Weitere fünf sind für die Zukunft in der Nähe geplant: das Stadthaushotel an der Schanghaiallee, das Westin Hamburg mit 244 Luxuszimmern und -Suiten in der Elbphilharmonie, ein weiteres im geplanten Kreuzfahrtterminal auf dem Grasbrook, eines am Lohsepark und schließlich eines in der Speicherstadt, für das gegenwärtig Block O und die Kaffeebörse saniert und umgebaut werden.

Rosige Zeiten

die über Nacht bleiben, kommt nach Erkenntnissen des Deutschen Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts für Fremdenverkehr (DWIF) im Rahmen einer Städtereise an die Elbe (69,3 Prozent). Für 25 Prozent steht die Reise nach Hamburg unter dem Motto „Kultur“, und knapp 12 Prozent wollen ein spezielles Event besuchen. Gut ein Fünftel der Übernachtungsgäste kommt aus dem Ausland, überwiegend aus Großbritannien, der Schweiz und Österreich, den USA, Dänemark, den Niederlanden, Frankreich, Italien, Spanien und Schweden. Von ihnen lässt jeder pro Tag über 200 Euro in der Stadt: gut 50 Euro in Bars und Restaurants, etwa 80 Euro für die Übernachtung, 44,50 Euro im Einzelhandel und 35,60 Euro für Busfahrten, Eintrittskarten und dergleichen.

Nicht nur die einzelnen Angebote innerhalb der Speicherstadt, sondern auch das denkmalgeschützte Ensemble selbst ist zum Ziel zahlreicher Städtereisender geworden.

Tagesgäste sind weniger spendabel. Sie geben im Schnitt etwa 45 Euro aus. Das Geld fließt in viele Töpfe: Vater Staat kommen etwa 1,32 Milliarden Euro in Form von Mehrwertsteuer zu. Vom Rest werden, so rechnet das DWIF in seiner aktuellsten Studie vor, 6,75 Milliarden Euro als sogenannte Vorleistungen für die Tourismusbranche ausgegeben, also für den Schlachter, der dem Hotelrestaurant die Filetsteaks bringt, für den Bäcker, der Brötchen fürs Frühstücks-Buffet bäckt, für den Stromanbieter, den Klempner, den Bauunternehmer, für die Agentur, die den Web-Auftritt gestaltet, und schließlich für den Steuerberater, der prüft, ob alle Beträge auch dorthin fließen, wo sie hin sollen. Nicht zu vergessen Löhne, Gehälter und Gewinne. Rein rechnerisch kommen also rosige Zeiten auf HafenCity und Speicherstadt zu.

Das Informationsleitsystem für HafenCity und Speicherstadt

Die Bedeutung, die diese beiden Viertel für den Tourismus gewonnen haben und die ihnen auch ganz bewusst gegeben wird, ist in gewisser Hinsicht fast überraschend, verfolgt doch besonders die HafenCity Hamburg GmbH bei der Umsetzung touristischer Angebote einen sehr unorthodoxen Weg: dass Anwohner, Touristen und Arbeitnehmer nicht in separaten, voneinander abgegrenzten Bereichen agieren, sondern sich vermischen, dieselben öffentlichen Plätze nutzen, in denselben Cafés sitzen und dieselben Promenaden entlang spazieren, die einen auf dem Weg zur Arbeit, andere auf dem Weg zur Kita, wieder andere zum Museum. Auf dauerhafte und geschlossene Attraktionen, die allein für Touristen gedacht sind, hat man bei den Planungen verzichtet. Wenn die HafenCity im Jahre 2025 fertiggestellt sein wird, rechnet man in der HafenCity Hamburg GmbH mit 80.000 Besuchern zwischen Kehrwiederspitze und Elbbrücken. So kommt es, dass mancher Anwohner am Kaiserkai sich heute darauf freut, wenn der Winter da ist.

Text: Nikolai Antoniadis, Fotos: Jonas Wölk, Heinz-Joachim Hettchen
Quartier 16, Dezember 2011–Februar 2012 , Rubrik:    
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