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Verschüttete Ansichten

Faszinierende Stadtansichten einst und jetzt zeigt der Hamburger Fotograf Christian Anhalt.

Rödingsmarkt um 1912 und heute: Während der Bahnhof seinen Charakter gewahrt hat, sind nur noch wenige alte Bauten geblieben. Ausnahmen sind die ehemalige Oberfinanzdirektion (rechts) und die Gebäude Rödingsmarkt 9 und 11 vor der Willy-Brandt-Straße (links).

Die historische Aufnahme zeigt einen Rödingsmarkt, wie man ihn nicht mehr kennt: Ewerführer dirigieren Schuten durchs enge Fleet, vom linken Ufer ranken Zweige dichtbelaubter Bäume bis über das Wasser. Lückenlos rahmen schmale dreistöckige Fachwerkhäuser mit spitzen Giebeln das andere Fleetufer ein. Davor die Straße; zwischen mobilen Seilwinden und Wasserpumpen verteilen sich Handkarren im Dutzend über das Pflaster. „Rödingsmarkt 1878“ lautet die knappe Bildunterschrift des Postkartenverlages Strumper & Co. Das Motiv ist eines von 100 Abbildungen aus Christian Anhalts Fotobuch „Der Hamburger Rödingsmarkt und seine Umgebung“. Der Fotograf arbeitet darin nur mit dem faszinierenden Kontrast des Einst-und-jetzt. So stellt er dem Rödingsmarkt von 1878 vor der Zuschüttung des Rödingsmarktfleetes im Jahre 1886 und dem Bau der Hochbahn 1912 das heutige Motiv aus exakt der gleichen Kameraposition gegenüber: Im Mittelpunkt parkende Autos unter dem Stahlviadukt, dazu links das prosaische Parkhaus am Rödingsmarkt und einige ziemlich gesichts-, vor allem aber geschichtslose und schmucklose Fassaden. „Architektonisch hat Hamburg, jedenfalls an dieser Stelle, nicht gerade gewonnen“, meint Anhalt nüchtern.

Das Rödingsmarktfleet 1878: Am Ufer stehen Handkarren, um die aus Schuten entladenen Waren weiterzutransportieren.

Der gleiche Blickwinkel heute: Das Fleet existiert seit 1886 nicht mehr, unter dem Viadukt beherrscht das Auto die Straße.

Dies trifft auf die meisten Motive seines Fotobandes zu. So sind von einem um das Jahr 1912 entstandenen Bild des nördlichen Rödingsmarktes mit Viadukt und Hochbahnhof nur noch wenige Gebäude übrig geblieben: die Hochbahnanlagen selbst, freilich mehrfach renoviert und verändert; das 1907 bis 1910 entstandene, den Platz beherrschende Gebäude der ehemaligen Oberfinanzdirektion nach Entwürfen des Hamburger Bauinspektors Albert Erbe, aus dessen Feder unter anderem das Völkerkundemuseum und das Gebäude der Bucerius Law School stammen; außerdem die Gebäude Rödingsmarkt 9 (Altes Klöpperhaus, 1902 bis 1904 von Lundt & Kallmorgen erbaut, heute unter Denkmalschutz stehend) und Rödingsmarkt 11, in dem Anhalts Fotostudio residiert. „Beim Sammeln von alten Postkarten und Büchern erkannte ich, was für ein beliebtes Motiv der Rödingsmarkt vor 100 Jahren war“, erklärt er den gedanklichen Ausgangspunkt seiner hansea-
tischen Fotosafari. Auffallend bei den Gegenüberstellungen sind natürlich die Veränderung des Stadtbildes und die damit einhergehenden Veränderungen des Charakters der Stadt. Konnten Bürger um die Jahrhundertwende 1900 noch im Sonntagsstaat gemächlich zwischen Straßenbahnen und Pferdefuhrwerken über die Fahrbahnen schlendern, wäre ein solches Unterfangen heute geradezu lebensgefährlich. An solchen Hamburgensien interessierte Nachbarn trifft man im Fotostudio immer wieder zur Buch-Schau. Nun liebäugelt Anhalt mit dem Gedanken, unter die Verleger zu gehen. Genügend Material für einen zweiten Band hat er bereits gesammelt.

Text: Michael Hertel, Fotos: Christian Anhalt, Archiv
Quartier 17, März–Mai 2012 , Rubrik:    
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