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Heilige Hallen

Er hat einen runden Geburtstag und wird 50, verfügt jedoch über eine erheblich längere Geschichte und, wenn es gut läuft, eine spannende Zukunft, weil er mitten im zukünftigen Herzen Hamburgs liegt: der Großmarkt.
Astrid Hüller

Der Hamburger Großmarkt für Obst und Gemüse in der Hermkes-Halle

Elektrisch gesicherte Schranken, kein Zugang zum Großmarkt, ohne einen Ausweis zu zeigen. Off limits! Die meisten Hamburger kennen die markant gerundeten Dächer, die über den Zaun grüßen, nur vom ICE aus in Zufahrt auf Hamburg oder weil sie zur Berufsgruppe der Markthändler und -kunden zählen. Die arbeiten nachts und früh morgens: Schade, denn die Großmarkthallen des Architekten Bernhard Hermkes in Hamburg-Hammerbrook gehören zum Feinsten, was die Hamburger Nachkriegsarchitektur zu bieten hat. Sie wurden zwischen 1958 und 1964 gebaut, damals hatte die Freie und Hansestadt Hamburg einen Architekturwettbewerb ausgeschrieben, den die Bürogemeinschaft Becker, Schramm, Elingius mit Bernhard Hermkes an ihrer Spitze gewann.
Das Ergebnis steht seit den frühen 1990er Jahren unter Denkmalschutz. Und das ist ungewöhnlich: keine Hauptkirche aus dem Mittelalter, sondern ein banaler Gewerbebau aus den 1960er Jahren. Wer etwas von moderner Architektur versteht, weiß warum: Der Bau besteht aus drei großen Hauptschiffen, und das ist fast ein bisschen wie in einer Kirche. Sie sind verbunden durch zwei niedrigere Seitenschiffe. Alle werden im markanten Wellenschwung von einem riesigen Dach kombiniert mit Fensterbändern überdeckt. Die Halle aus Sichtbeton misst 220 mal 180 Meter und besitzt elf Tore! Es ist aber nicht dieser für Hamburg gigantische Maßstab, sondern die Konsequenz und Feinheit des kon-struktiven Denkens, die diesen Gewerbebau adeln. Architekturkritiker und Hermkes-Biograf Ulrich Höhns schrieb schon 1989: „Die Form der Obst- und Gemüsegroßmarkthalle entwickelte Hermkes zum einen ganz aus den klimatischen Lager- und Belichtungsanforderungen heraus, zum anderen aus den technischen und betrieblichen Erfordernissen eines großen Warenumschlagplatzes. Dabei entstand ein Bau von großer Formklarheit und Originalität.“
Durchaus nicht übertrieben, wenn Architekturfreaks diese Hallen für eine architektonische Landmarke in der Qualität des Chilehauses halten, zu der die Elbphilharmonie noch werden muss. Bernhard Hermkes (1903–1995) war beim Bau der Grindelhochhäuser beteiligt, schuf das Audimax der Uni, plante vor dem Krieg Flugzeughallen für Messerschmidt oder Heinkel und noch früher Wohnungen in der Zeit der Weimarer Republik. „Wohnungs- und Ingenieursbau auf der Höhe der internationalen Diskussion“, nannte das Ulrich Höhns.

Der Großmarkt wird zur Pforte zu Hamburgs Wildem Osten.

Aber es ist noch viel mehr, was diese Hallen zur Hamburgensie werden lässt: ein Ort wie eine Ouvertüre für Hamburg gleich an den Elbbrücken, mit langer Geschichte. Fleischhöfe und Gemüsehallen gab es in allen Großstädten Europas. Wie in Paris häufig Bauch genannt, waren sie neben Bahnhöfen und Fabriken Schlüsselbautypologien des 19. Jahrhunderts, Kleinode der Ingenieursbaukunst, meist hinter historisierenden Fassaden. In Hamburg lief das ein bisschen anders, weil vordergründig Ort (draußen vor der Stadt) und Zeit (Nachkriegsbau) nicht zur Baugeschichte der europäischen Stadt zu passen schienen.

Die markante Fassade der Halle an der westlichen Zufahrt zum Großmarktareal

Schuld sind zwei Katastrophen. Der lebenswichtige Handel mit Obst und Gemüse aus den Marschlanden, der traditionell auf dem Hopfenmarkt stattfand, wuchs nach dem Großen Brand von 1842 rasant wie die Stadt, die auf die Millionenmarke an Einwohnern zumarschierte und einen riesigen Hunger entwickelte. Im Jahr 1907 wurde ein vorläufiger zusätzlicher Marktplatz mit Landungsanlagen zwischen dem Meßberg, dem Deichtor und der Alten Wandrahmsbrücke in Betrieb genommen: ein praktischer Endpunkt für die nachhaltige Logistik über Elbe, Fleete und Kanäle. Denn jahrhundertelang war das Haupttransportmittel für die Produkte aus den Vier- und Marschlanden der hölzerne Ewer. Bereits 1911 wurden die alten Märkte am Hopfenmarkt und Meßberg aufgehoben, und der neue Deichtormarkt eröffnet. Der Rest ist einigen Hamburgern noch bewusst, weil sie die Veränderungen noch selbst miterlebt haben. Ab den 1960er Jahren konnten die neuen Hallen den traditionellen Standort ersetzen; ganz in der Nähe sozusagen mit Autobahnanschluss. Der Krieg hatte brutal und radikal da den Platz geschaffen, wo es vorher in der Kleinteiligkeit der Arbeitervororte am Nordufer der Elbe wie Rothenburgsort niemals möglich gewesen wäre. Noch ist der Großmarkt beinahe ein Terra incognita. Keine verbotene Stadt zwar, aber eine geschlossene. Jetzt, da so manches, was stadtgeografisch vor dem Krieg zusammengehörte, wieder zusammenwächst, jetzt da die HafenCity und der Sprung über die Elbe deutlich machen, was für ein wichtiges Stückchen Hamburg sich dort zwischen Hauptbahnhof, City Süd, Oberhafen und Rothenburgsort befindet, könnte der Zeitpunkt reif werden, das gigantische Bauwerk in das urbane Artwerk eines neuen Hamburgs für das 21. Jahrhundert einzubauen. Allen, die sich irgendwie um Planung und Ideen kümmern, ist klar geworden, dass irgendwann ein Großmarkt in dieser Form nicht mehr rentabel, nicht mehr zeitgerecht sein wird. Aber bis dahin sollten Planer nicht warten, sich Gedanken zu machen.

Foto: Astrid Hüller

Ausschließlich für Gewerbe: Private Einkäufer haben hier nichts verloren.

Alle bisherigen Ideen kann man als Schnellschüsse bezeichnen. Eine neue Uni in den riesigen ungedämmten Hallen? Teuer in der energetischen Ertüchtigung. Veranstaltungs- und Messehallen? Haben wir schon. Das zentral gelegene Terrain und die Bau-Ikone sind es wert, systematischer vorzugehen. „Wir wollen im kommenden Jahr einen Markt für Endverbraucher einrichten“, hatte der Geschäftsführer des Großmarkts, Torsten Berens, dem Hamburger Abendblatt im letzten Jahr gesagt. Erste Zeichen des Wandels, temporäre Nutzungen wie Automärkte und Gourmettreffs existieren schon. Der mögliche Markt für Endverbraucher ist Teil einer obligatorischen Neuausrichtung des Großmarkts, der wie in den letzten hundert Jahren sich auch jetzt wieder auf den sich wandelnden Großstadtorganismus einrichten muss. In den globalen Zeiten des Internets und der gezielten In-Time-Versorgung sind die alten Dinosaurier unberechenbar geworden. Riesige Lagerflächen sind heute viel zu teuer, wenn fast überall eine computergesteuerte Direktanlieferung möglich ist! Derzeit seien die Hallen mit 90 Prozent noch sehr gut ausgelastet, sagen die Marktleute. 1,5 Millionen Tonnen an Obst und Gemüse werden dort noch jährlich umgeschlagen. Aber mit dem schwindsüchtigen eigentümergeführten Einzelhandel, der den großen Handelsketten weicht, schrumpft auch die Kundschaft dramatisch. Die Stadtplaner des 21. Jahrhunderts wissen, dass Städte nur eine urbane Chance haben, wenn sie 24 Stunden am Tag lebendig sind. Hier ist ungewöhnlicherweise der Nachtbetrieb schon gesichert. Wer es nicht glaubt, sollte das Bistro in der restaurierten 1950er-Jahre-Tankstelle direkt vor den östlichen Toren des Großmarkts am Billhorner Röhrendamm mal um 2:30 Uhr besuchen. Dort treffen sich bei frisch geschmierten Brötchen die aufwachende arbeitende Bevölkerung und jene Nachteulen, die nach einer langen Nacht bald schlafen gehen wollen. Eine wunderbare dichte Packung mit Großstadt drin.

Der Zeitpunkt könnte reif sein, das Bauwerk in das urbane Artwerk
eines neuen Hamburgs einzubauen.

In der Mischung liegt die urbane Chance – hybrid nennen das die Stadtplaner. Für die Nachnutzung des Großmarktes darf keinerlei hermetische Trennung mehr zwischen dem „echten“ Großmarkt und dem Rest existieren, die HafenCity hat ja auch die Freihafenzäune verschoben! „Aus touristischer Sicht kann das neue Angebot durchaus eine Bereicherung sein“, meinte der Geschäftsführer des Hamburger Einzelhandelsverbands Wolfgang Linnekogel im vergangenen Jahr: Man müsse allerdings aufpassen, dass der Markt nicht zu einer Konkurrenz für etablierte Supermärkte werde. So ein bisschen klingt da die hanseatische Angst vor dem eigenen Mut hindurch. Muss doch gar nicht sein. Risiken haben doch in Hafenstädten durchaus ihr Zuhause. Der Großmarkt, wann auch immer er zu neuen Aufgaben zwischen Bildung, Wohnung oder Event gefunden haben sollte, wird zur Pforte zu jenen Stadtteilen, die heute Wilder Osten genannt werden, Hammerbrook, Billbrook und Rothenburgsort. Dort liegt das Gebiet mit den größten Hamburger Entwicklungspotenzialen nach der HafenCity und dem Gleisdreieck in Altona. Im Anschluss an die HafenCity, im Sprung über die Elbe, dort auf der Elbnordseite in einer Königslage für die Hamburger Stadtentwicklung aus der geografischen Stadtmitte heraus. Noch ist ein bisschen Zeit, aber die Planungen laufen schon, beispielsweise dann, wenn von der östlichen HafenCity am Baakenhafen eine neue Brücke auf das Hallenareal vorgesehen und mit der U4 alles im Katzensprung zu erreichen sein wird.

Text: Dirk Meyhöfer, Fotos: Astrid Hüller
Quartier 18, Juni–August 2012 , Rubrik:    
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