Phönix aus der Brache
Im Jahr 2003 wurde das erste Gebäude der HafenCity seinem Mieter übergeben. Diese Schlüsselübergabe an SAP steht am Beginn einer zehnjährigen Geschichte, die von den Hamburgern bis heute aufmerksam verfolgt wird. Sie steht aber auch am Ende einer anderen, ebenfalls gut zehnjährigen Geschichte, die sich hinter verschlossenen Türen abspielte. Abhängig vom Gesprächspartner lesen sich diese beiden Dekaden als Erfolgsgeschichten oder als Beweis von Darwins Theorie in der Stadtentwicklung. Als Einstimmung für die Gespräche mit drei Protagonisten des Generationenprojekts HafenCity nehmen wir uns kurz Zeit und streifen ein paar Episoden seiner kontrovers diskutierten Geschichte.
Aus Anlass des 75-jährigen Bestehens des Überseeclubs hatten sich am 7. Mai 1997 gut 1.000 Gäste im großen Saal des Rathauses eingefunden. Bundespräsident Roman Herzog hielt eine einleitende Rede und übergab dann das Wort an Henning Voscherau. Was Hamburgs Erster Bürgermeister dann vor den versammelten Honoratioren aussprach, war für manchen Ohrenzeugen nichts anderes als eine Sensation. Er sprach von einer Vision: Das Gebiet zwischen Sandtorhöft und Elbbrücken sollte als Hafen aufgegeben und für eine zukunftsweisende Entwicklung der Stadt neu genutzt werden. Auch wenn es Hamburg damit einer Reihe anderer Hafenstädte gleichtat, die brach gefallene Hafenareale umnutzten, war diese Ankündigung für die meisten revolutionär, galt doch Hamburgs Hafen lange als unantastbar. Voscheraus Vision war seine Antwort auf eine historische Herausforderung: Es galt, die Hansestadt für das kommende Jahrtausend zu rüsten, nachdem sie durch den Zusammenbruch des Ostblocks wieder in die Mitte eines gesamteuropäischen Wirtschaftsraums gerückt war.
Wer hat’s erfunden?
Natürlich gibt es eine andere, eine alternative Lesart: Als Voscherau im Überseeclub seine „Vision HafenCity“ vorstellte, kam er acht Jahre zu spät. Jahrelang hatte er sich dem Willen der Wirtschaftsbehörde und der HHLA gebeugt und das Projekt bewusst verhindert. In dieser Variante wird die Geschichte von Egbert Kossak erählt, der 1981 bis 1998 Hamburgs Oberbaudirektor war. Die Auseinandersetzung zwischen ihm und Voscherau ist mindestens so alt wie die HafenCity und wurde von Beginn an gerne öffentlich ausgetragen. Dabei wirft Kossak Voscherau vor, sich mit fremden Federn zu schmücken. Tatsächlich habe er selbst, Kossak, die HafenCity schon in den 80er Jahren zusammen mit Klaus von Dohnanyi auf zahlreichen Symposien, Bauforen und Architekturwettbewerben vorbereitet, die sich intensiv mit dem nördlichen Hafenrand befassten und ihn als eine zusammenhängende „Perlenkette“ von Neumühlen bis Hammerbrook begriffen. Nach Dohnanyis Rücktritt habe Voscherau aber untersagt, diese Pläne weiter voranzutreiben, vor allem auf Betreiben der Wirtschaftsbehörde, die die Interessen der Hafenwirtschaft gefährdet sah. Erst HHLA-Chef Peter Dietrich gab den Anlass, die Pläne wieder aus der Schublade zu holen, weil er nach Wegen suchte, den Hafenausbau in Altenwerder zu finanzieren. Hans Lafrenz, ehemals Deputierter der Baubehörde und später Abgeordneter der CDU in der Bürgerschaft, stieß in dasselbe Horn: Nur, weil die Wirtschaftsbehörde Geld für die Hafenerweiterung brauchte, sei erwogen worden, stadteigene Flächen zu verkaufen, um mit den Erlösen Altenwerder zu ermöglichen.
Unstrittig ist, dass die Vorbereitungen in aller Heimlichkeit betrieben wurden. Viele Gebäude, Lagerhallen und Industrieanlagen auf dem betreffenden Gelände befanden sich im Besitz privater Unternehmen. Ohne Kontrolle darüber würde die Stadt die Flächen nicht verkaufen können. Aus diesem Grund gründete die HHLA 1995 die Gesellschaft für Hafen- und Standortentwicklung (GHS), um die Immobilien auf dem Grasbrook unter Vorwänden aufzukaufen, immer darauf bedacht, keinen Verdacht zu erregen und so die Preise in die Höhe zu treiben. Genauso diskret wurden die städtebaulichen Parameter für das Gelände entwickelt. Anstatt Oberbaudirektor Kossak damit zu betrauen, ließ man eine Studie durch den Architekten Volkwin Marg erstellen, der sich unter der Tarnung seiner Lehrtätigkeit an der TU Aachen ausführlich damit befasste.
Zwangsehe
Der offizielle Geburtstag der HafenCity ist der 27. August 1997. An diesem Tag verabschiedete die Bürgerschaft das Gesetz zum „Sondervermögen Stadt und Hafen“, dem dann die stadteigenen Grundstücke des Entwicklungsgebiets überschrieben wurden. Die GHS (die heutige HafenCity Hamburg GmbH) erhielt den Auftrag, mit dem Verkauf der Flächen die Infrastruktur der neuen HafenCity zu finanzieren, also den Bau von Straßen und Brücken, die Ertüchtigung der Kaimauern, den Hochwasserschutz und die Sanierung des Bodens im ehemaligen Industriehafen. Voscheraus Coup bestand aber gerade darin, aus dem Sondervermögen auch die Hafenerweiterung zu finanzieren. Der Hafenausbau wurde mit etwa 1,2 Milliarden DM veranschlagt: 550 Millionen sollte die Stadt, 650 Millionen die HHLA übernehmen, das Sondervermögen davon wiederum 461 Millionen. Viele hielten diese Verbindung für die eigentliche Legitimation der HafenCity; ohne die Bereitstellung von Flächen in Altenwerder hätte die Hafenwirtschaft den Großen Grasbrook niemals aufgegeben. Gleichzeitig wurde diese Zwangsehe zwischen Hafenerweiterung und HafenCity als schwere Hypothek für die Stadtentwicklung begriffen. Nicht nur in den zuständigen Ausschüssen der Bürgerschaft wurde bezweifelt, dass der Grundstücksverkauf die gewünschten Mittel für Altenwerder erwirtschaften könne. Professor Dieter Läpple von der TU Harburg warnte auch davor, die Erschließungskosten seien „acht bis zehn Mal zu niedrig angesetzt“. Beide Befürchtungen schienen sich spätestens 2007 zu bestätigen. Die Gewinne aus Grundstücksverkäufen blieben hinter den Erwartungen zurück, der Hafenausbau wurde über Kredite weiterfinanziert, und die Medien verbreiteten tiefrote Zahlen: Altenwerder stehe bereits mit 240 Millionen Euro in der Schuld, das Sondervermögen sogar mit 390 Millionen Euro. Am Ende entschied Bürgermeister Olaf Scholz, das Sondervermögen von Altenwerder zu trennen.
Die Doppelrolle der GHS stand aus einem weiteren Grund in der Kritik. Der Immobilienentwickler Alexander Gérard bemängelte zum Beispiel schon 2000 – kurz bevor er mit seiner Frau auf die Idee kam, anstelle des geplanten Medienzentrums einen Konzertsaal auf Kaispeicher A zu bauen –, die HafenCity werde keinen Raum für geförderten Wohnungsbau haben. Dabei ist Wohnungsbau in der Innenstadt grundsätzlich schon schwierig, weil es Handel und Gewerbe naturgemäß dorthin zieht und die Preise entsprechend anziehen. Man fürchtete also einen gewissen Anreiz, den Anteil an Gewerbeflächen in der HafenCity hochzuhalten. Dasselbe gilt für den Büroanteil, der in den vergangenen Jahren gewaltig angestiegen ist: Wurde anfangs noch von Arbeitsplätzen für 20.000 Menschen gesprochen, geht man inzwischen von 45.000 aus.
Gleichzeitig leidet der Stadtteil an seiner geringen Einwohnerschaft. Die gesamte HafenCity hat zehn Jahre nach Baubeginn nur knapp 1.800 Einwohner, von denen laut Statistikamt Nord lediglich die Hälfte dauerhaft hier leben. Nachdem diese kleine Gemeinschaft lange unter dem Image eines Ghettos für Besserverdiener litt, haben sich nun die politischen Prioritäten dahingehend verändert, dass stärker an einer sozialen Durchmischung gearbeitet wird. Verschiedene Finanzierungsmodelle wurden verstärkt berücksichtigt, etwa Baugemeinschaften und Genossenschaften. Das Mietniveau bleibt im Verhältnis zur restlichen Stadt trotzdem hoch. Es wird zwar als Erfolg verbucht, dass am Lohsepark Sozialwohnungen entstehen, aber es bleibt zweifelhaft, ob es in der HafenCity zu gefördertem Wohnungsbau in größerem Maßstab kommen wird. Auch bei moderaten Grundstückspreisen und günstigen Baufinanzierungen ist es für die meisten Bauherren unrealistisch, in Innenstadtbereichen Mieten unter zwölf Euro pro Quadratmeter zu verwirklichen. Um das zu erreichen, wären umfangreiche Subventionen nötig. Aber ausgerechnet auf einem von Hamburgs teuersten Baugründen? Trotzdem gilt das Ziel, am Baakenhafen ein Drittel aller Wohnungen im sozial geförderten Wohnungsbau zu errichten, denn Bürgermeister Scholz hat sich das massive Wohnraumproblem der Stadt zur Aufgabe gemacht. Man wird ihn daran messen, ob das zum Beispiel im Baakenhafen gelingt, wo der wesentliche Teil der erwarteten 12.000 Einwohner der HafenCity leben soll.
Die Zwangsehe zwischen Hafenausbau und HafenCity wurde als schwere Hypothek für die Stadtentwicklung begriffen
Man wird ihn nicht nur daran messen. Der Nachlass seiner Vorgänger stellt ihn vor einige Herausforderungen, allen voran die Elbphilharmonie, deren Kosten auf eine halbe Milliarde Euro angewachsen sind, während die anderen architektonischen Leuchttürme, etwa das Kreuzfahrtterminal mitsamt Fünf-Sterne-Hotel von Massimiliano Fuksas oder die Waterfront Towers von Erick von Egeraat, von der Tagesordnung verschwunden sind. Es ist noch keine fünf Jahre her, dass Rem Koolhaas seinen 40-Millionen-Euro-Entwurf für das Science Center vorstellte. Heute redet kein Mensch mehr davon. Die Stadt ist gerade noch einmal um die Anmietung von 50.000 Quadratmetern herumgekommen, um ihre Verpflichtungen gegenüber dem Überseekonsortium zu erfüllen. Trotzdem muss die Entwicklung des südlichen Überseequartiers zügig vorangetrieben werden.
Vor 16 Jahren offenbarte Bürgermeister Henning Voscherau der Stadt seine „Vision HafenCity“. Er erlebte noch im Amt, wie sie von der Bürgerschaft angenommen wurde, trat dann aber zweieinhalb Monate später zurück und musste ihrer Verwirklichung durch seine Nachfolger zusehen. Ole von Beust, als Oppositionsführer zunächst wenig begeistert, war dann von 2001 bis 2010 als Bürgermeister ganz entscheidend daran beteiligt, die Vision aus dem Planungsstadium in die gebaute Wirklichkeit zu holen. Und schließlich Olaf Scholz. Zehn Jahre nach dem ersten Spatenstich am Sandtorkai muss er mit diesen Wirklichkeiten umgehen.
Text: Nikolai Antoniadis, Fotos: Thomas Hampel (2, 3), Heinz-Joachim Hettchen (1), HHLA (4)