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Revolution und Restauration

Ein Besuch im Atelier der Künstlerin, Designerin und Restauratorin Lilia Nour in der Speicherstadt

Lilia Nour in ihrem Atelier: Die Böden der alten Speicher bieten genügend Platz für ihre großformatigen Arbeiten

Es ist ein unerwarteter Anblick: Auf der Fensterbank eines Bodens in der Hamburger Speicherstadt steht eine bronzene Lenin-Büste und glänzt im einfallenden Licht. Hier hat die Künstlerin und Restauratorin Lilia Nour ihr Atelier eingerichtet. Ein langer Weg führte sie von Kazan bis hierher: Geboren 1972 in der Hauptstadt von Tatarstan, hatte sie bereits die dortige Kunsthochschule besucht, bevor sie in St. Petersburg an der renommierten Staatlichen Akademie für Kunst und Design, der Stieglitz-Akademie, studierte. Und noch immer sind es die zwei prägenden Pole – ihre Kindheit in der russischen Provinz und ihre Studienzeit im westlich orientierten St. Petersburg –, zwischen denen sie ihre Themen findet.

Inspiriert von der Zen-Philosophie ließ sie beispielsweise eine Zeitlang florale Elemente in ihre Werke einfließen. Den wenigsten Betrachtern dürfte aufgefallen sein, dass die vermeintlich japanischen Kirschblüten darin in Wirklichkeit Apfelblüten waren – eine Kindheitserinnerung an die Datscha ihrer Familie in Tatarstan!

Aktuell befasst sich die Künstlerin mit einem ganz anderen Thema: der russischen Avantgarde. So beherrscht eine Studie des russischen Dichters und Agitators Wladimir Majakowski die eine Wand des Ateliers. Das überlebensgroße Porträt ist reduziert auf elementare Licht- und Schattenflächen in Braun- und Beigetönen, wirkt fast skizzenhaft. Erst beim Nähertreten bemerkt man, mit welcher Akribie auch hier Schicht auf Schicht größtenteils selbst angemischter Farben aufgetragen und wie mit schwungvollen Kreidestrichen einzelne Details herausgearbeitet wurden. Auch Motive, derer sich der Sozialistische Realismus bedient hat – Sportlerinnen beim kollektiven Turnen –, verarbeitet Nour zu großformatigen Werken. Vergeblich sucht man nach einer ironischen Brechung; die Unbekümmertheit, mit der sich die Künstlerin diese Ästhetik zunutze macht, mag zunächst befremdlich wirken. Andererseits spiegelt sich genau diese Unbekümmertheit wider in der Leichtigkeit der Umsetzung – sie befreit das Motiv von jeder pathetischen Schwere. Für Nour ist es ein Weg, Erinnerungen zu wecken, die eng verknüpft sind mit der Suche nach ihrer persönlichen und künstlerischen Identität. „Ich will“, sagt sie, „das Glücksgefühl meiner Kindheit zurückholen.“

Und so sieht man beim Verlassen des Ateliers auch die Lenin-Büste in anderem Licht: Der Revolutionär als Souvenir – das ist ironische Brechung genug!

Einen Eindruck von Lilia Nours Werken bekommt man auf ihrer Website www.lilia-nour.de.

Text: Urs N. Jascht, Foto: Michael Klessmann 

 

Quartier 23, September–November 2013 , Rubrik:    
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