« Zurück zur Übersicht

Phantom, Phänomen und Parametrismus

Der architektonische Kosmos der Zaha Hadid
Oper von Guangzhou

Die Oper von Guangzhou, die nach fünfjähriger Bauzeit 2010 eröffnet hat (1)

Zaha Hadid

Zaha Hadid (2)

Überraschung: Wir sitzen im Büro von Zaha Hadid und schauen auf Speicherstadt und Elbphilharmonie. Zaha Hadid? Arbeitet doch in London? Zaha Hadid – da können viele mitreden, die gar nix oder nur wenig von Architektur verstehen – ist zwar nicht die Architektin der Elbphilharmonie, dafür sind ihre Bauten erheblich aufregender. Diese haben so gar nichts mit dem Haus vom Nikolaus zu schaffen, sondern sind schräg, verrückt, zackig, schwebend: einfach nicht von dieser Welt. Zaha Mohammad Hadid, 1950 in Bagdad geboren, ist die einzige Frau, die sich im global-maskulinen Architekten-Zirkus über Jahrzehnte gehalten hat: „Sie ist zickig, tierisch, wild, hemmungslos, macht, was sie will, verhält sich wie ein Mann, zeigt sich wie eine Frau, und dafür liebe ich sie“, lautet eine meiner Lieblingsäußerungen über sie im Netz. Verhält sich wie eine Frau? Naja – sie besitzt 1.000 Paar Schuhe. Oder mehr. Und solche entwirft sie auch, also nicht nur Museen wie Raumschiffe, Sprungschanzen wie Raketenabschussbasen und Sitzmöbel fließend wie für Astronauten.

Zaha Hadid ist Protagonistin einer eindeutigen Architekturauffassung, die wie ein gut platziertes Markenprodukt herüberkommt. Sie lässt dabei immer das volle Spektrum von 360 Grad in ihre Raum-Skulpturen einfließen und der Rechte Winkel bleibt ungebetener Gast. Die experimentierfreudige Radikalistin ist Pritzker-Preisträgerin; die Auszeichnung wurde ihr 2004 als erster Frau der Welt verliehen. Ihre Themen: „Collage und Hybridisierung“, „Dialektik und Dynamik“ oder „Landen und Fliehen“. Das klingt nach Phantom und Fabelwesen, ist aber inzwischen von handfestem und weltweitem Erfolg gekrönt. Ein Blick auf ihre Website zeigt die heutige Präsenz des Hadid-Konzerns: bald 1.000 Projekte in 44 Ländern, 400 Beschäftigte, Aufträge aus der ganzen Welt.

Peak Project

Peak Project, Hadids Gemälde im MoMA New York (3)

Der Anfang der Erfolgsstory liegt in einem Spiralnebel: Zaha Hadid gewinnt 1983 einen weltweit ausgeschriebenen Architektenwettbewerb, landet einen spektakulären Sieg, der dann zur „vergoldeten“ Niederlage wird. Ihr Entwurf für den Peak Leisure Club hoch über Hongkong erregte internationales Aufsehen und war 1988 auch bei der einflussreichen „Deconstructivist Architecture“-Ausstellung des New Yorker Museum of Modern Art vertreten. Ein eher oberflächliches Image entstand und blieb haften: Sie galt als eine theoretische Vordenkerin des Dekonstruktivismus. Erstmals präsentierte Zaha Hadid eines ihrer geheimnisvollen schwarzen Architekturgemälde: Der Peak-Entwurf changiert in drei sich überlagernden, gegeneinander verschobenen Balken mit unterschiedlichen Farben und Funktionen. Freitragende Vorsprünge, Rampen und Plattformen gliedern wie einen horizontalen Wolkenkratzer den Club, der im Hohlraum zwischen dem zweiten und dritten Balken unter freiem Himmel liegt. Hadid setzt sich über die Grenzen eines gewöhnlichen Hauses hinweg. Außen und Innen fließen zusammen.

Das alles ist heute immer noch ohne eine Realisierung nicht richtig vorstellbar. Doch gebaut wurde der Club nie. Gleichwohl war Hadid gar nicht dem Dekonstruktivismus verpflichtet, sondern auf der Suche nach einer neuen Formensprache der Moderne, weil „less is more“ und der Rechte Winkel für sie die völlig falschen, weil veralteten Motive waren …

U-Bahn-Station

Die geplante U-Bahn-Station im King Abdullah Financial District in der saudischen Hauptstadt Riyadh, die 2017 eröffnen soll (4)

Wirtschaftsuniversität Wien

Herzstück des neuen Campus der Wirtschaftsuniversität Wien: das Library & Learning Center, fertiggestellt 2013 (5)

Abgeleitet hatte sie ihre eigene Theorie ausgerechnet von der suprematistischen Architektur des russischen Revolutionsarchitekten Kasimir Malewitsch aus den 20er Jahren (er war der Schöpfer des berühmten Schwarzen Quadrats). Sie sollte anders sein als die bisherige Architektur, die nur zweidimensional denke, die nur die Fassade gestalte, die anderen Seiten aber vernachlässige und den räumlichen Körper nicht als solchen sehe – glaubte Malewitsch.

Und Hadid sattelte auf seine Welt auf, in der es Planite oder Architektone gab. Die Grundform der Architektone zum Beispiel ist das Quadrat beziehungsweise der Kubus oder Quader. Zahlreiche Quader in verschiedenen Größen und Formen werden gestaffelt, ineinandergeschoben, aufeinandergesetzt. Diese Körper sind nicht funktional, sie stehen für nichts, sie sind „Objekt für nichts, nur eine Komposition stereometrischer Figuren“ (Malewitsch). Und sie waren ein Frontalangriff auf die gesamte davorliegende Bau- und Kulturgeschichte. Revolutionsarchitektur eben.

Kein Wunder, wenn über lange Zeit ihre Projekte den Bauherren zu kühn waren. Viele nicht ausgeführte Entwürfe stehen für eine lange Durststrecke ohne große Projekte. Etabliert hatte sie sich dann erst zehn Jahre später ausgerechnet in Deutschland, mit einer eher kleinen Werksfeuerwehranlage auf dem Vitra-Werkgelände in Weil am Rhein. Sie verdankte dies der Innovationsfreude von Rolf Fehlbaum, dem geschäftsführenden Inhaber von Vitra, der bereits eine Reihe angesehener Architekten wie Álvaro Siza, Tadao Ando oder Frank Gehry für den Bau neuer Fabrikhallen engagiert hatte. Der zerklüftete Betonbau mit seinen scharfen Kanten und Zacken wirkt wie eine erstarrte Explosion. Heute stehen dort keine roten Autos mehr, sondern häufig Kunst- und Designexponate.

Die Zeiten und die Bauherren aller möglichen Volkswirtschaften im Aufbau kamen der sich etablierenden Star- und Signaturarchitektur und auch Zaha Hadid zu Hilfe. Die Welt wurde ihr Baufeld, Diktatoren und Despoten ihre Bauherren – vor allem in China oder in den Emiraten, entsprechend großartig, manchmal auch grob wirkten die Bauten.

Science Center in Wolfsburg

Science Center in Wolfsburg: das phæno (6)

Das gute, alte Europa, wo ihre feineren Bauwerke stehen, blieb bescheiden beziehungsweise avantgardistisch. Und diese haben es in sich: Das phæno (2005) in Wolfsburg ist ein neuer Typus des Technikmuseums, in dem die Besucher mit „den Ohren sehen“, „sekundenlang schweben“ und „die Leichtigkeit des freien Falls erleben“ können: also keine Kopie des Deutschen Museums in München, sondern ein Ereignis für alle Sinne zwischen Bauch und Hirn.

Signifikant sind auch die alpinen Beiträge für die Olympiastadt Innsbruck (2003). Aus weiter Entfernung betrachtet, macht die Sprungschanze den Eindruck, als würde sie sich in das Leere projizieren, in den eigenen Kosmos. Heute gilt die Schanze als Wahrzeichen des modernen Innsbrucks wie auch die gegenüberliegenden Raumkapseln der Hungerburg-Bergbahn, denen so gar nichts Alpines anhaftet.

MAXXI Museum

MAXXI Museum für das XXI. Jahrhundert (7)

Für mich liegt ihr schönstes aktuelles Werk mitten im ewigen Rom. Das MAXXI, ein Museum für Gegenwartskunst, ist eine Museumslandschaft im Fluss, aber mit Brüchen und Metamorphosen – vielleicht der erste wirkliche Präsentationsort für die Kunst des 21. Jahrhunderts. Das Raumschiff Hadid ist prächtig ins Fliegen gekommen. Die Besatzung wächst und wächst, aus 20 Mitarbeitern wurden 202. Der internationale Zirkus um Zaha Hadid erlebte dann vor wenigen Jahren einen weiteren Hype und danach einen Shitstorm im Netz, als ihr Juniorpartner, der Deutsche Patrik Schumacher, sich aufmachte, mit zwei sehr dicken Büchern nicht nur die Architekturtheorie auf eigenwillige Weise aufzumischen, sondern der Welt mitzuteilen: Wir allein haben herausgefunden, wie das mit der Architektur des 21. Jahrhunderts so läuft. „Wir“ heißt Zaha Hadid! Und die Rede ist vom parametrischen Entwerfen, was verkürzt das integrierte Entwerfen, Konstruieren und Bauen nach Gesetzmäßigkeiten einer guten Software meint – und bei vielen komplexen Bauvorhaben sehr hilfreich ist. Schumacher spricht allerdings von Parametrismus als Style, was, vorsichtig formuliert, unzutreffend ist. Sein Buch heißt „The Autopoiesis of Architecture“, was ungefähr „Selbsterschaffung der Architektur“ (durch künstliche Intelligenz) bedeuten soll. Autopoiesis oder Autopoiese (aus Altgriechisch „selbst“ und „schaffen, bauen“) ist der Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung.

Klar, dass die Architekten über diese Missachtung ihrer eigenen Kreativität angefressen sind und der Hamburger Architekturtheoretiker Ullrich Schwarz schrieb: „Aufbauend auf einer Entwurfsmethodik, die nicht auf klassischer Formengebung, sondern auf computergestützter Formfindung fußt, geht es hier um glatte und weiche Morphologien, schwarm-ähnliche Formationen, fließende Gestalten. Schumacher verkündet die parametrische Architektur siegesgewiss als den heute und wohl für lange Zeit dominierenden ‚Stil‘“. Und das führt uns in die Irre.

Hochwasserschutz

Der neue Hochwasserschutz zwischen Landungsbrücken und Niederhafen wurde als attraktive Elbpromenade entworfen (8)

Baumwall

Uferpromenade am Baumwall (9)

Reset auf den Startpunkt. Luftlinie etwa 300 Meter vom Sandtorkai entfernt liegt an den Mühren neben St. Katharinen ein wunderbares Backsteinhaus aus den 1930er Jahren, das sich auch als das Hamburger Haus der Architektur bezeichnen lassen kann. Unten residiert der AIT-Architektursalon, darüber zahlreiche Architekturbüros und ganz oben: Zaha Hadid Hamburg; ein gemütliches Loft, Blick auf die Speicherstadt, Türdrücker und Fliesen aus der Zwischenkriegszeit. Ein bisschen verschlufft. Fast eine Atmosphäre wie früher in ihrer Schule. Einer der vier Büroleiter der Hamburger Hadid-Architekten, Kai Hübener, ging nach seinem Studium in Berlin nach London, bald darauf war er an der Bergisel Skischanze in Innsbruck und später beim BMW Zentralgebäude für die neue Fabrik in Leipzig beteiligt. 2006 lobte Hamburg eine sehr interessante Form der Ideengewinnung aus: eine Architekturolympiade. Eine der Aufgaben lautete, neue Ideen für ein ganz altes Thema – den Hochwasserschutz – zu finden. Das Hamburger Büro des Architekturweltkonzerns baut nun 625 Meter Hochwasserschutz auf der Hafenmeile zwischen Landungsbrücken und Baumwall. Normalerweise hätte man die Schutzlinie von 7,20 Metern über Normalnull auf 8,60 Meter mit einer möglichst hohen Stahlbetonwand durchgeführt. Zaha Hadids Hamburger Team entwarf aber eine begehbare Bandskulptur, mit mächtigen Treppen, die kegelförmig das Band unterbrechen. Es entstehen kleine Theater zu Stadt und Strom, mit Felsformationen, auf denen Restaurants, Cafés und Kioske Platz haben. Die ersten Abschnitte werden gerade freigegeben.

Warum nun ausgerechnet in Hamburg ein eigenes Zaha-Hadid-Büro entsteht, hat etwas mit der typisch deutschen Art zu tun, Architektur zu machen, während in China, Italien oder Dubai die Hadid-Entwürfe schließlich mit örtlichen Partner-Büros realisiert werden, geht das hier anders. Über die berühmten Leistungsphasen, wie sie die HOAI, die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure, kennt, können die deutschen Architekten des Büros Hadid sehr direkt möglichst vieles selbst erledigen. Hamburg wickelt auch Projekte in Wien oder Würzburg ab, arbeitet als kleiner, feiner, frei kreisender Satellit in der Hadid-Welt. Sollte allerdings irgendwann einmal der Ruf durchs All schallen: „London, wir haben ein Problem!“, dann wird sich die Zentrale sofort einschalten.

Siegerentwurf

Hadids Siegerentwurf für das gewaltige Changsha Meixihu International Culture & Art Centre in der chinesischen Provinz Hunan (2012) (10)

Text: Dirk Meyhöfer, Fotos: Hufton and Crow (1), Brigitte Lacombe (2), Roland Halbe (5), Klemens Ortmeyer (6), Bernard Touillon (7), Thomas Hampel (9), Gemälde: Zaha Hadid Architects (3), Visualisierung: Zaha Hadid Architects (4, 10), on3studio/Zaha Hadid Architects (8)

 

Quartier 26, Juni–August 2014 , Rubrik:    
« Zurück zur Übersicht