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Baumaterial

Auch in digitalen Zeiten gilt weiterhin: Archive sind das wahre Gedächtnis einer Stadtgesellschaft. Das Hamburger Architekturarchiv hat sich für die Aufbewahrung von Büchern, Zeichnungen oder Nachlässen einen Ort ausgesucht, der besonders emotional aufgeladen ist, was die Baugeschichte betrifft: die Speicherstadt, Brooktorkai 4, 4. Boden
Norbert Baues

Seit 1986 im Hamburgischen Architekturarchiv: Norbert Baues

Wenig überraschend: Die Speicherstadt hat so ihre Geheimnisse und besitzt verzauberte Orte und menschliche Originale, auch wenn sie heute nicht mehr nur Quartiersleute und Konsorten sind. Unser kleiner Ausflug führt auf einen ehemaligen Speicherboden, ein öffentlicher Ort, den jeder besuchen kann. Wenn auch nach Voranmeldung und mit einem berechtigten Anliegen. Dafür könnten aber schon Neugier und Lust auf alte Häuser und Straßen sowie auf spannende Lebensdaten von Architekten und Bauingenieuren ausreichen. Wer den 4. Boden im Brooktorkai 4 aufsucht (am östlichen Anfang der Speicherstadt hinter der Oberbaumbrücke, gegenüber des SPIEGEL-Neubaus gelegen), trifft auch ein dazugehöriges Original an.

Die Rede ist vom Hamburgischen Architekturarchiv, das von der Hamburgischen Architektenkammer organisiert wird. Das Archiv ist Mitglied im ICAM, der internationalen Vereinigung der Architekturmuseen, einer Unterabteilung der UNESCO und seit 1997 in der Föderation deutscher Architekturarchive. Es breitet sich mittlerweile auf 750 Quadratmetern des Bodens aus – das allein ist schon ein Erlebnis, hier mit den Augen zu stehlen oder sich irgendwo in die Luchten zu stellen und auf die Fleete zu schauen.

In diesen heiligen Hallen trifft man rasch auf Norbert Baues, der so aussieht, wie man einen Archivar aus nostalgischen Filmen kennt, allerdings ohne Ärmelschoner. Unter weißgrauer Haarpracht, so wie sie früher die anthroposophischen und Werkbund-Architekten getragen haben. Er ist immer zum tiefgründigen Lächeln bereit, besonders dann, wenn man als „Kunde“ (und ein Architekturschreiber ist so einer) einen besonders ausgedrehten Wunsch hat, er dann in wirklich Nullkommanix zwischen den Regalen und Schiebladen verschwindet und mit der entsprechenden Zeichnung, die er dann wie eine Trophäe in der Hand hält, zurückkehrt.

Norbert Baues, Jahrgang 1950, Dipl. Ing. der Architektur, studierte in Berlin, machte dort 1978 sein Diplom und ist seit 1986 im Archiv, nur zwei Jahre nach dessen Gründung. Zeiten, die für Architekturbüros schwierig waren. Baues, der damals in ein Projekt für Denkmaltopografie in Berlin-Kreuzberg involviert war, nutzte die Chance, sich in die Themen Archiv, Denkmalpflege und Dokumentation einzuarbeiten. Er ist geblieben und hat großen Spaß dran. Bescheiden nennt er sich den Techniker des Archivs, in den Berichten der Architektenkammer wird er als Leiter des Archivs und wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Schwerpunkt auf Verwaltung und Akquisition geführt. Damals war das Archiv noch in Billstedt, von wo es dann nach Bramfeld in das expressionistische Kopfbauwerk (mit dem goldenen Bullen im Uhrturm) der ehemaligen Margarinefabrik Voss umgezogen ist. Dorthin, wo heute die Technikerkrankenkasse residiert. Baues wohnte ganz nahe und standesgemäß in einem prächtigen Barmbeker Klinkerbau der Zwischenkriegszeit – die Hamburgs große Ära in der modernen Architektur war.

Das allein ist schon ein Erlebnis, hier mit den Augen zu stehlen
oder sich irgendwo in die Luchten zu stellen und auf die Fleete zu schauen 

Trotzdem war er sofort dabei, als es 2007 hieß: Wir gehen in die Speicherstadt. Ullrich Schwarz, Geschäftsführer der HAK (Hamburgische Architektenkammer) und damit auch zuständig für das Archiv, glaubt heute, dass diese Einrichtung zu den Pionieren an der Waterfront gehört, wenn es um die Bildungs-, Wissenschafts- und Kulturlandschaft in HafenCity und Speicherstadt geht: „Als klar wurde, dass es eine HafenCity Universität am Baakenhafen geben würde, haben wir gehandelt!“ Eine gute Entscheidung, wie man heute weiß.

Doch was macht eigentlich das Hamburgische Architekturarchiv aus? Wie der Name es schon ausdrückt: Vor allem Architektenarbeiten aus Hamburg werden archiviert, das heißt die gezeichneten, gedruckten und fotografierten Nachlässe von Architekten, Institutionen und Firmen. Es ist ein Who-is-who der hanseatischen Architektur.

Norbert Baues fällt es schwer, die zehn wichtigsten auszusuchen, es sind ja viele mehr! Aber dann nennt er doch ein paar, die ihm wichtig sind und am Herzen liegen – Werner Kallmorgen (stark in der Speicherstadt vertreten), Paul Seitz, den vorbildlichen Schulbauer, Friedrich Spengelin, Fachmann für Städtebau und Wohnungsbau, Georg Wellhausen, den großen Mann des Wiederaufbaus in Hamburg und Helgoland. Aber auch Konstanty Gutschow, den man schon mal den Albert Speer von Hamburg genannt hat, und der nach der „Führerstadt“ schließlich den Neuaufbau nach der Zerstörung organisieren sollte. Natürlich auch Cäsar Pinnau mit seinen Elbvillen, den Entwürfen für die Dampfer und dem Hochhaus der Reederei Hamburg Süd. Oder die Lichtbildner Ernst Scheel und Ursula Becker-Mosbach.

In diesen heiligen Hallen trifft man auf Norbert Baues, der so aussieht, wie man einen Archivar aus nostalgischen Filmen kennt, allerdings ohne Ärmelschoner. Unter weißgrauer Haarpracht, so wie sie früher die anthroposophischen und Werkbund-Architekten getragen haben

Das Archiv steht heute allen Interessierten zur Verfügung – mit Schwerpunkt auf Forschung und Lehre, da ist die Nachfrage inzwischen international. Die Hamburger Hochschulen und Institute wissen sehr genau, wie wertvoll der Schatz für ihre Arbeit ist. 30.000 Fachbücher und 1.000 Zeitschriften sind ein zusätzliches Argument, Doktorarbeiten oder eine Masterthesis über Hamburger Themen hier vorzubereiten. „Wir betrachten uns als aktives Archiv“, sagt Ullrich Schwarz, „nicht als Lagerstätte.“

Für die Architektenkammer ergeben sich zudem viele Synergien. Die inzwischen über 30 Titel der wissenschaftlichen Schriftenreihe wären ohne das Archiv nicht denkbar, ebenso viele Ausstellungen wie zuletzt über das Auto in der Stadt, über Brücken oder Villen in den Elbvororten.

Parallel zur Erfolgsgeschichte des Archivs steht die reziproke Geschichte der finanziellen Unterstützung. In den ersten Jahren war das Archiv durch ABM-Maßnahmen und solche der Kammer gut abgefedert, der damalige Kultursenator Ingo von Münch sorgte 1991 für eine 50-Prozent-Förderung durch den Senat. Diese wurde dann ab 1996 kontinuierlich reduziert und 2004 gestrichen. Heute bestallt die HAK den Etat allein, aber die Architektenschaft steht voll dahinter. Waren in den Gründerzeiten die Zweifler noch stark in den Plenarsitzungen der Kammer hörbar, sind sie nach und nach verstummt: Längst ist erkannt worden, wie wertvoll die Archivarbeit ist.

Hamburger Architekturarchiv

Schatzkiste und Fundgrube: Der Bestand des Archivs umfasst einzigartige Zeugnisse der Hamburger Baugeschichte. Zeichnungen, Pläne und Skizzen erzählen die Planungsgeschichte zahlreicher Bauwerke

Seit 1997 ist das Archiv im Internet präsent und verfügt über eine hervorragend funktionierende Website, die den umfangreichen Bestand von Fachbüchern und Fachzeitschriften transparent macht (www.architekturarchiv.de).

Im Wesentlichen bleibt das Archiv ein Hort des Gedruckten und Gezeichneten, auch wenn natürlich immer mehr Archivarien in aller Welt digitalisiert werden. Das Archiv ist deswegen nicht nur das Gedächtnis der Hamburger Architektur, sondern auch ein Bauch und Objekt für alle Sinne, besonders für die Nase, wenn die wundersame Geruchsmischung aus ehemaligem Warenspeicher und bedrucktem Papier den Besucher sofort in alte Zeiten (ver)führt. Immer mehr Architekten, Fotografen oder Journalisten liefern ihre kleinen Schätze kostenlos bei Norbert Baues ab und machen den großen Schatz des Hamburgischen Architekturarchivs immer wertvoller und Norbert Baues – den Gralshüter der Hamburger Baukultur – und sein Team sehr glücklich.

Text: Dirk Meyhöfer, Fotos: Thomas Hampel 
Quartier 27, September–November 2014 , Rubrik:    
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