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Wer hat’s gebaut?

Herzog & de Meuron zählen zweifellos zur Avantgarde der internationalen Architekturbüros. Deshalb hat Hamburg sie für sein aufwendigstes Bauvorhaben ausgewählt. Darüber wird häufig vergessen, dass die Wurzeln der Schweizer Architekten nicht in den großen Gesten liegen

Ricola / Herzog & de Meuron

Die Produktions- und Lagerhalle von Ricola im französischen Mulhouse (1)

Galerie Goetz / Herzog & de Meuron

Die Galerie Goetz in München (2)

„Ich weiß noch, wie man sich erzählte, euer größter Albtraum sei, dass ihr euer eigenes Büro betretet und jemandem begegnet, der nicht weiß, wer ihr seid“, erinnerte sich Ai Weiwei einmal in einem Gespräch mit Jacques Herzog. „Ich sehe mit Freuden, dass euer Albtraum wahr geworden ist.“ Tatsächlich gehört das Büro Herzog & de Meuron heute mit rund 38 Associates und weltweit über 360 Mitarbeitern zu den ganz Großen. Und das schon sehr lange. Als Alexander Gérard 2003 ihren Entwurf für eine Philharmonie auf dem Kaispeicher A an die Medien lancierte und so Hamburgs Öffentlichkeit für die Idee begeisterte, galten Jacques Herzog und Pierre de Meuron bereits seit Jahren als Stars der Architekturavantgarde, spätestens seit ein ehemaliges Kraftwerk in London nach ihren Plänen in die Tate Gallery for Modern Art umgewandelt worden war und danach zu einem Emblem für Londons Aufstieg zu einer Weltkunstmetropole wurde. Inzwischen ist die Nachfrage nach einer Signatur von Herzog & de Meuron so groß, dass Jacques Herzog kürzlich sein Bedauern darüber äußerte, keine Zeit mehr für die kleinen Dinge zu haben, die früher ihre Hauptbeschäftigung waren.

Tate Gallery / Herzog de Meuron

Sunflower Seeds von Ai Weiwei in der Tate Gallery of Modern Art (3)

Als Jacques Herzog und Pierre de Meuron an der ETH Zürich begannen, sich mit kleinen Dingen zu beschäftigen, war die Architektur in der Krise. Die Idee der Moderne, die sie lange zusammengehalten hatte, zeigte Auflösungserscheinungen. An den Universitäten waren Debatten über eine neue zeitgemäße Theorie entbrannt, die bis in die 80er Jahre hineinreichten. Die Postmoderne rang mit der Dekonstruktion, der kritische Realismus mit der Collage. Die Architektur hatte ihre Muttersprache verloren, und die einzelnen Dialekte, in die sie zerfiel, waren für Herzog und de Meuron allesamt unbefriedigend. Für die beiden jungen Studenten war deshalb die Zusammenarbeit mit Künstlern, die viel radikalere Wege einschlugen, eine logische Konsequenz.

Die intensivste und vielleicht fruchtbarste dieser Bekanntschaften war die mit Rémy Zaugg, der ein so enger Freund wurde, dass er fast als Partner des Büros angesehen wurde. „Wir probierten alles aus, was Künstler und Architekten zusammen ausprobieren können, weil es notwendig war“, sagte Herzog später über diesen Austausch. „Er hatte keine Arbeit, wir hatten keine Arbeit. Er hatte kein Geld, wir hatten kein Geld.“ Unter anderem verfasste Zaugg anlässlich der documenta 1982 eine kleine Schrift, „Die List der Unschuld“, die für Herzog & de Meuron das Modell formulierte, nach dem sie gesucht hatten. Am Beispiel der „Stahlkisten“ von Donald Judd führte Zaugg aus, wie bestimmte Formsprachen es ermöglichten, den Betrachter nicht auf eine einzige Wahrnehmung einer Skulptur zu beschränken.

„Keine Theorie der Architektur hat überlebt. Das einzige, das von Architektur übrig bleibt, ist die Architektur selbst“

Zu den ersten Dingen, die Herzog und de Meuron nach ihrem Diplom in Angriff nahmen, gehörte ein Besuch bei Joseph Beuys. „Er war sehr politisch“, sagte Herzog viele Jahre später über ihn, „außerdem irgendwie ein Dandy. Er sah gut aus und tat Dinge, die niemand sonst tat. Sein Unterricht war sehr praktisch, ich will beinahe sagen: sexy. Er hatte etwas Erotisches in der Art zu sprechen, in seiner Art sich zu verhalten.“ Die Stadt Basel hatte 1977 von Beuys die Skulptur „Feuerstätte“ gekauft, mit öffentlichen Geldern, was einen mittelschweren Skandal ausgelöst hatte. Herzog und de Meuron wollten ein öffentliches Statement zu dieser Auseinandersetzung abgeben und konnten Beuys überzeugen, sich daran zu beteiligen. Sie verkleideten die Mitglieder eines Fasnachtszugs in Basel als Beuys-Double, die mit einer provokanten Skulptur zum Kunstmuseum marschierten und dort mit großer Geste ihre Mäntel auf einen Haufen warfen, der dann Teil der Skulptur „Feuerstätte II“ von Beuys wurde (die heute permanent im Kunstmuseum ausgestellt ist).

Das Kunstmuseum Basel hatte nicht nur früh begonnen, systematisch Arbeiten von Beuys aufzukaufen, sondern erwarb auch als erste öffentliche Galerie in Europa amerikanische Nachkriegskunst, Barnett Newman, Mark Rothko, später auch Vertreter des Minimalismus. Die Arbeiten von Donald Judd, besonders seine „Stahlkisten“, machten großen Eindruck auf Herzog und de Meuron. Sie begannen, den Begriff „minimal“, der bisher nur in der Kunst gebräuchlich war, auch in der Architektur anzuwenden; mit seiner Hilfe fanden sie Antworten, nach denen sie in den zeitgenössischen Architekturdiskussionen lange vergeblich gesucht hatten. Er half ihnen, ihre Arbeit zu beginnen.

Herzog & de Meuron

Die fünf Senior Partners von Herzog & de Meuron: (von links nach rechts) Christine Binswanger, Ascan Mergenthaler, Stefan Marbach, Pierre de Meuron, Jacques Herzog (4)

In einem Vorort von München konnten sie schließlich ihre Vorstellung von „minimal architecture“ zum ersten Mal richtig umsetzen. Die Kunsthändlerin Ingvild Goetz wollte 1989 ihre private Sammlung in eine Galerie einbringen. Während sie selbst sich mit extravagantem barockem Mobiliar umgab, wollte sie für ihre Arte-Povera-Exponate ein „zeitgenössisches Zen-Kloster“ (wie sie selbst sagte), in dem nichts die Konzentration auf die Kunst störte. Herzog & de Meuron entwarfen auf einem sehr einfachen, fast banalen Grundriss ein zweistöckiges Haus, wobei das obere Stockwerk das untere duplizierte, sodass man oben wie unten denselben räumlichen Eindruck bekam. Formal gesehen ist die Goetz-Sammlung eine große Kiste, gekleidet in ein Band aus blassem Birkenholz, das die milchig-grünen Glasscheiben von Ober- und Untergeschoss trennt. Während Glas und Holz tagsüber mehr oder minder eine blickdichte Wand bilden, zerbricht die Fassade in zwei unterschiedliche Elemente, sobald das Licht innen heller wird als außen.

Einen ähnlichen Effekt gaben sie wenige Jahre später einem anderen Gebäude, dieses Mal nicht in einem Münchener Vorort, sondern in einer ausgedehnten Ebene in Kalifornien. Für den Bau eines Weinguts für Dominus stapelten sie Steine ohne Mörtel zu Wänden auf. Dabei entstanden Lücken, die für Tages- und Kunstlicht gleichermaßen durchlässig waren und dem schweren Material eine erstaunliche Leichtigkeit geben. Durch die Verwendung des dort typischen vulkanischen Basaltsteins geht der Komplex bei bestimmten Lichtverhältnissen fast in der Landschaft unter; aber ähnlich wie bei der Galerie Goetz werden die Wände sichtbarer, wenn abends Kunstlicht angeschaltet wird.

Elbphilharmonie / Herzog & de Meuron

Die Elbphilharmonie, nicht ganz fertig, aber schon jetzt ein echter „Herzog & de Meuron“ (5)

Mit seinen „Schweizer Kisten“ wird das Büro Herzog & de Meuron in den 80er und 90er Jahren zum Begründer eines Schweizer Minimalismus. Gewissermaßen unfreiwillig taucht die „Kiste“ sogar in der Elbphilharmonie auf, und zwar in Gestalt des Kaispeichers: ein „Kuckucksei“ von Werner Kallmorgen, das als bestehender historischer Baukörper als Unterbau dient, auf dem dann die Philharmonie selbst errichtet wird. „Bei der Elbphilharmonie kann man quasi durch diese Rasterhölle hinauf zum Himmel gelangen“, äußerte Jacques Herzog dazu. „Wir haben immer gesagt, das sei wie eine Herzog & de Meuron-Architektur der 80er Jahre unterhalb einer Architektur von uns von heute.“ Während aber die „Kiste“ ein wiederkehrendes Motiv bleibt, scheint auch immer wieder die Tendenz auf, diese strenge formale Struktur zu stören, zum Beispiel durch veränderte Lichtverhältnisse wie bei Goetz und Dominus. Oder wie an der Fassade der Fachhochschule Eberswalde (Realisierung 1997–1999). Durch Siebdrucke wird das Auge dort daran gehindert, das Gebäude als rechteckig zu erkennen. Gleichzeitig fördert die Gleichmäßigkeit der Bilder eben diesen Eindruck – um dann den Baukörper bei einsetzendem Kunstlicht von innen wieder auseinanderzubrechen. Für Herzog & de Meuron sind diese Siebdruck-Motive deshalb auch keine Dekoration, sondern ein wesentlicher Bestandteil der Architektur, weil sie die Wahrnehmung des Gebäudes prägen. Letztlich beschäftigt sich die moderne Architektur mit diesem Thema seit Mitte des 19. Jahrhunderts: dem Wunsch, den wahren Kern, die reine Form freizulegen, indem Bauwerke von jedem überflüssigen Schmuck befreit werden – woran die rigorose Zerstörung von Gesimsen und Dekor an gründerzeitlichen Fassaden erinnert. Diese Verachtung des Ornaments wurde vor allem von dem österreichischen Architekten Adolf Loos propagiert. In seiner Kampfschrift „Ornament und Verbrechen“ erklärte er 1908: „Der Papua tätowiert seine Haut, sein Boot, seine Ruder, kurz alles, was ihm erreichbar ist. Er ist kein Verbrecher. Der moderne Mensch, der sich tätowiert, ist ein Verbrecher oder ein Degenerierter.“ Deshalb verwenden Herzog & de Meuron heute mit diebischer Gehässigkeit den Begriff der „Tätowierung“, etwa in Eberswalde, wo sich die Fassade der Hochschule aus Bildern des Fotokünstlers Thomas Ruff zusammensetzt, die die Fassade im wahrsten Sinne des Wortes „tätowieren“.

IKMZ und Vitrahaus / Herzog & de Meuron

Links: Das IKMZ Cottbus (2004) ist keine „Schweizer Kiste“, aber „tätowiert“ (6). Rechts: Signaturarchitektur der Champions League – das extravagante Haus von Herzog & de Meuron steht auf dem Vitra-Campus neben Bauwerken anderer Stararchitekten wie Renzo Piano, Frank Gehry, Tadao Ando oder SANAA (7)

Ricola-Detail / Herzog de Meuron

Ricola Mulhouse, Fotografie von Karl Blossfeldt, für die Fassade bearbeitet von dem Düsseldorfer Fotokünstler Thomas Ruff (8)

Besonders vielschichtig behandeln sie das Thema in der Produktions- und Lagerhalle von Ricola in Mulhouse (1993). Je näher man ihr kommt, desto lichtdurchlässiger scheint die Fassade und offenbart das Bild eines Blattes der Griechischen Silber-Garbe, die Reproduktion eines Fotos von Karl Blossfeldt aus dem Jahre 1928. Auf Polycarbonat-Platten übertragen, gibt es der Halle eine beinahe altmodische Anmutung, fast wie Kirchenfenster. Da das Dach keine Regenrinnen besitzt, läuft das Regenwasser an den Außenwänden herab und fördert dort das Wachstum von Moos. Die sich daraus ergebenden zufälligen Verwitterungen sind Teil der Entwurfsidee und durchaus erwünscht.

In jüngeren Arbeiten haben Herzog & de Meuron immer häufiger versucht, einen Schritt weiterzugehen und Ornament und Struktur so zu verbinden, dass beides nicht mehr voneinander zu unterscheiden ist. So ist bei Prada in Tokio (2003), das sie seinerzeit als „das reinste Gebäude, das wir je gemacht haben“ bezeichneten, alles, was man sieht, gleichzeitig Struktur, Raum, Form und Ornament. Das prominenteste Beispiel ist aber das Olympiastadion in Peking, mehr Skulptur als Bauwerk. Der frühere Schweizer Botschafter Uli Sigg hatte ihnen als Berater vor Ort Ai Weiwei empfohlen, damals noch ein etablierter Künstler in China, über den Herzog später sagen würde, er sei wie „die chinesische Version von Rémy Zaugg“.

Geprägt von den Diskussionen ihrer Studienzeit, hegen Jacques Herzog und Pierre de Meuron ein starkes Misstrauen gegen Theorien. Ihr einziges theoretisches Leitbild lautet: Architektur ist Architektur. In dieser Hinsicht sind sie bekennende Schüler ihres Lehrers Aldo Rossi, der viele Architekturstudenten an der ETH Zürich prägte, weil er für kurze Zeit Hoffnungen auf eine taugliche neue Theorie weckte. Rossi war Kommunist, eine charismatische Persönlichkeit, poetisch, vor allem aber ein echter Architekt, der seinen Studenten zeigte, wie man politisch sein und gleichzeitig Gebäude bauen konnte. Am Ende wurde er aus der Schweiz ausgewiesen. Aber er hinterließ einen starken Nachlass. Für Herzog war er gar der letzte Architekturtheoretiker. „Aber“, sagte er 2013 vor Studenten der Columbia University, „wir sollten das nicht überbewerten, denn keine Theorie der Architektur hat überlebt. Das einzige, das von Architektur übrig bleibt, ist die Architektur. Wenn die Leute ein Gebäude lieben, wird es für immer bleiben. Wenn nicht, wird es verschwinden.“

Plympiastadion Peking / Herzog & de Meuron

Das „Vogelnest“ in Peking (2008), das anlässlich der Olympischen Spiele in China gebaut wurde (9)

Text: Nikolai Antoniadis, Fotos: marco_pozzo / flickr (1), Sammlung Goetz/Wilfried Petzi (2), Joon-sung Lim (3), Tobias Madörin (4), Thies Raetzke (5), Margherita Spiluttini (6), Iwan Baan (7, 9), Jeroen P. M. Meijer / flickr (8)
Quartier 28, Dezember 2014–Februar 2015 , Rubrik:    
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