Paralleluniversum an der Maas
Rotterdam, die große Hamburger Konkurrentin, rüstet auf zum Manhattan an der Maas, aber gleichzeitig gibt es auch Stadtentwicklungen im menschlichen Maßstab. Ein Reisebericht für Interessierte, Investoren und Stadtplaner
Warum das Quartier verlassen und ausgerechnet nach Rotterdam fahren? Zwei plausible Gründe und ein persönliches Motiv: Einerseits macht „in Rotterdam gerade die ‚Markthal‘ Furore, die viel mehr ist als eine Markthalle – ein Lebensraum, ein Anziehungspunkt. Warum wird so etwas bei uns nicht gebaut?“, wie es in der SZ hieß. Zum Zweiten will das oberste Hamburger Urbanisten-Triumvirat Olaf Scholz, Jörn Walter und Jürgen Bruhns-Berentelg eine wundersame Rettung des südlichen Überseequartiers durch ein weitgehend unterirdisches Shopping-Center aus dem leicht verbeulten Stadtplanerhut zaubern. Drittens war der Trip eine Sentimental Journey, denn 1997, als es zwar schon einen Architektursommer gab, aber noch keine HafenCity, zeigte das Museum der Arbeit in Barmbek meine Ausstellung „Veränderungen am Strom Rotterdam – Hamburg“, die bald darauf auch im damaligen Nederlands Architectuurinstituut in der Maasstadt präsentiert wurde. Rotterdam hatte etwas früher als Hamburg den Sprung über seinen Strom gewagt und sich 1993 am Kop van Zuid (deutsch: Kopf von Süd-Rotterdam) auf einem 120 Hektar (HafenCity etwa 157 Hektar) großen ehemaligen Hafengebiet weiterentwickelt. Rotterdam, das durch deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg ähnlich stark zerstört wurde wie westdeutsche Großstädte im Bombenkrieg, verlor sein vertrautes Gesicht und wurde zunächst modern und ein wenig langweilig wiederaufgebaut.
Danach aber klotzte Rotterdam. Die 1996 eröffnete Erasmusbrücke mit einem 139 Meter hohen Stahlpylon (Architekten: UNStudio), die jetzt nach Kop van Zuid führt, ist heute das unbestrittene Wahrzeichen des neuen Rotterdam. Die zackige Megaharfe lässt die Köhlbrandbrücke mickrig aussehen, allerdings hatten die mutigen Architekten so manchen Ärger beim Bau der Landmarke. Auch sonst viel Paralleles. Auch dort war die Weltelite der Architektur am Start mit Sir Norman Foster und Roger Piano und nicht zu vergessen die eigenen Superstars, allen voran Rem Koolhaas. Das Motiv ist klar: Koolhaas, der schon 1978 mit seinem Buch „Delirious New York“ die Supermatrix eines metropolitanen Quartiers für das 21. Jahrhundert geschrieben hatte, gibt, während sein Hamburger Science-Center-Projekt in der HafenCity abgesagt worden ist, den Takt für das in die Höhe und Dichte strebende Manhattan an der Maas an.
Und nach einer kurzen Zeit des Fremdelns und des Zulassens, dass man angekommen ist, wird das „Wie geil ist das denn!?“-Gefühl überwältigend
Die Sehnsuchtsreise des Ausstellungskurators von damals beginnt am neuen Hauptbahnhof. Rotterdam Centraal (Benthem Crouwel, MVSA Meyer en Van Schooten Architecten und West 8; Wettbewerb 2005) ragt als Flügel weit ins Stadtgefüge und bietet prächtigen Schutz für die täglichen 100.000 Passagiere (was erheblich weniger ist als am Hamburger Hauptbahnhof). Die kurze Untergrundreise mit der Metro, die mit ihren Stationen den Vergleich mit den U4-Haltestellen nicht scheuen muss, endet im Basement von De Rotterdam (Architekt OMA, Rem Koolhaas!) und ist namentlich der ehemaligen SS ROTTERDAM gewidmet, einem alten Ocean Liner, der den Liniendienst nach New York geleistet hatte, bis der von Düsenjets übernommen wurde. Im übertragenen Sinne steht der Name auch dafür, dass diese vertikale Stadt den neuen Spirit von Rotterdam symbolisiert: Drei miteinander verstrickte Hochhäuser, die nach oben „Köpfe“ bilden und jeweils 150 Meter hoch sind, wirken wie die gebauten Ausrufungszeichen, die auf 162.000 Quadratmetern das Leben von der Wiege bis zur Bahre organisieren: Luxus- und einfache Wohnungen, Einkaufszentrum, Büros, das Vier-Sterne-Hotel, Spa und Gym, die Tiefgarage. Ein „Delirious Rotterdam“, wie es die Neue Zürcher Zeitung nannte. Dazu gehört auch das nhow-Hotel. Und nach einer kurzen Zeit des Fremdelns und des Zulassens, dass man angekommen ist, wird das „Wie geil ist das denn!?“-Gefühl überwältigend.
Zur Erklärung: Wer in der Rotterdamer HafenCity wohnt oder arbeitet, schaut auf die imposante Erasmusbrücke und zurück auf die City, und auch die ist in den letzten Jahren prächtig in die Höhe geschossen. Das Hotel-Apartment im elften Stockwerk ist wie ein Adlernest: Die Welt liegt zu ihren Füßen. Als Hotelgast zwei Tage zu bleiben im Cocooning des Global Village in der calvinistischen niederländischen Ausgabe ist allerdings die eine Seite, die andere als Pointe die, dass auch dieser gigantische und intellektuell begründete Metropolenbeitrag eines Rem Koolhaas selbst in seiner Home Base nicht ausreicht, um den Container wirtschaftlich zu füllen. Die Gemeindeverwaltung musste viele Büros anmieten, um den Immobilienerfolg zu garantieren. Ein Schelm, der an die HafenCity denkt!
Und dann die Markthalle. Mitten in der City, eingerahmt von vielen modernen und postmodernen Architekturen der letzten 50 Jahre, die jeder deutsche Architekturstudent jener Jahre mindestens einmal als „Vorbild“ besucht hatte, steht die Markthalle und bildet in der Ansicht einen mächtigen Bogen, einen Triumphbogen gar. Aber für was? Für den Kommerz, für die Stadt? Das Interessanteste vorweg: Die 102 Miet- und 126 Eigentumswohnungen liegen – oder sollte man hängen sagen? – in der Ummantelung das Luftraums über den Markthallen mit einer Grundfläche von 8.400 Quadratmetern. Die renommierte Zeitschrift „Baumeister“ schreibt von einem „monströsen Konstrukt“ und nennt die inzwischen weltweit publizierte innere Ausmalung „Cornucopia“ von Arno Loenen und Iris Roskam „Kitschhimmel aus Riesenfrüchten“. Architekten tun sich schwer, schön geht für sie anders, und die Architekten von MVRDV wollen auch gar nicht über Schönheit sprechen. Über die ingenieurstechnische Leistung schon. Auch wenn die elfstöckige hufförmige Umbauung aus funktionalen und konstruktiven Gründen wenig elegant scheint. Der Aufbau der beiden Gebäudeflügel war mittels einer wachsenden Verschalung schnell erledigt. Das bogenförmige Dach wurde in vier Bauphasen – jeweils getragen von mobilen Unterkonstruktionen – gebaut. Die Stahl-Glas-Fassaden der Seitenfronten können sich bei Nordseestürmen flexibel bis zu 70 Zentimeter nach innen verbiegen. Auch wenn Architekturhistoriker mäkeln, weil es in Holland gar keine Markthallentradition gibt, ist diese Markthalle ein kommerzieller Erfolg, die Wohnungen sind alle vermietet oder verkauft, immer wieder muss die Halle wegen Überfüllung zeitweise gesperrt werden. Ob die Architekten von MRDV sich vorstellen können, etwas Ähnliches in der Hamburger HafenCity zu bauen, beantwortet Kommunikationschef Jan Knicker nicht direkt, schmunzelt und sagt: „Ja, wenn man uns ruft!“
Was Rotterdam als Vorbild für Hamburger Stadtentwicklungen betrifft, da lohnt sich allerdings viel mehr der Blick auf Projekte, die die Fachleute den Slow Urbanism oder Bottom-up nennen. Im Schattenwurf der drei XXL-Stadtbausteine Rotterdam Centraal, De Rotterdam und Markthal gedeihen kleine sympathische Stadtgewächse im Tulpenland. Eines liegt direkt hinter dem Tourismusmagneten und Sehnsuchtsort des Welttourismus, dem früheren Hauptquartier der Holland-Amerika-Linie und heutigen Hotel New York im Herzen vom Kop van Zuid. Eine neue feine Radfahrer- und Fußgängerbrücke führt seit einigen Monaten direkt auf die Halbinsel Katendrecht. Das war bis vor wenigen Jahren ein Hotspot der Kriminalität und der sozialen Härten mit Sperrstunde für die Kids, die gern in der Nacht die Polizei aufmischten. Heute ist Katendrecht eine blühende Landschaft. Früher Gewerbe und Hafenindustrie, heute kleine, bunte Markthallen, Clubs und viel Gastronomie, wo der Chef selbst kocht. Alte Häuser wurden saniert und hübsch gemacht, neue hinzugefügt und das von den besten holländischen Architekten. Viel Leben auf den Straßen und Plätzen, tags und nachts. So könnte man sich Hamburg-Wilhelmsburg vorstellen oder auch den Oberhafen in der HafenCity. Einen kleinen Schönheitsfehler gibt es: Nun wohnen hier die Architekten oder Kuratoren der großen Rotterdamer Museen. Man nennt das Gentrification.
Glaubt man meiner kundigen Führerin, wächst in Rotterdam das Interesse der Bevölkerung an Planungsbeteiligungen. Sarah hat Stadtplanung in Delft und in Berlin studiert und ist Redakteurin der Zeitschrift „Vers Beton – voor de Harddenkende Rotterdammer“ und fit, vor allem dort, wo es bürgernah wird. Direkt hinter dem protzigen Hauptbahnhof stand jahrelang der Schieblock leer, man könnte das 60er-Jahre-Konstrukt in puncto Anmutung und Architektur vielleicht mit den Cityhof-Hochhäusern in Hamburg vergleichen. Eigentlich war der „Kasten“ schon so gut wie abgerissen, doch dann hatten fantasievolle Investoren Ideen für eine temporäre Nutzung von zunächst fünf Jahren, die Architekten ZUS bauten für die Kreativbranche und Start-ups. Mittlerweile sind die Verträge verlängert. Eng verknüpft damit ist das Projekt Luchtsingel mit einer 400 Meter langen Holzbrücke, die über Stadtbrachen und breite Straßen hinweg zu neuen Eventflächen an einem aufgegebenen Nahverkehrsbahnhof und dem Park Pompenburg führt. Vergleichbar mit der vielgerühmten High Line in Manhattan, wo eine ehemalige Güterbahnstrecke zum Grünzug und zum Katalysator für die Immobilienwirtschaft wurde. Inzwischen ist die High Line nach Ground Zero das zweitattraktivste Touristenziel in New York. Initiatoren in Rotterdam sind Bürgerbeteiligungen und Stiftungen, also ein klassisches Bottom-up-Unternehmen.
Der ehemalige Oberbaudirektor Kossak hatte schon 1997 im Katalog zur Ausstellung „Veränderungen am Strom“ geschrieben: „Am Hafenrand brauchen wir ein hochsensibles Entwicklungsmanagement, das langfristigen, wirtschaftlichen und sozialen Erfolg vor kurzfristige Einnahmemaximierung stellt!“ Oder mit den Worten der SZ-Architekturkritikerin Laura Weissmüller in ihrem Artikel „Oase statt Ödnis“ als Weckruf an die deutschen Urbanisten und Architekten: „Nur Mut!“ Und der sollte, wenn man von Rotterdam lernen will, sich nicht nur auf die Mega-Projekte beziehen, sondern auf den Slow Urbanism und temporäre Szenarien. Stadt für alle! Und vielleicht beginnt man im südlichen Überseequartier mit dem Bau eines zeitlich begrenzten Kunst- und Kultur-Outdoorparks, der das Warten auf Olympia versüßt …
Text: Dirk Meyhöfer; Fotos: 500watt (1), Ossip van Duivenbode (2, 4, 5, 6), Claire Droppert (3), Jan van der Ploeg (7), Frank Hanswijk (8)