« Zurück zur Übersicht

Das Land, wo die Zitronen blühen

Ein nächster großer Bauabschnitt von Hamburgs beliebtester Touristenattraktion steht vor der Vollendung. Die Reise nach Italien kann jetzt schon im Miniatur Wunderland enden

Wunderland

Seit 2010 arbeitet das Miniatur Wunderland an seiner Italienstrecke, die voraussichtlich im Sommer 2016 eröffnet wird

Eine Baubesprechung der besonderen Art, kein Polier, kein Statiker, kein Handwerker. Stimmt nicht ganz, ein Tischler sitzt am Tisch im Büro des Miniatur Wunderlandes, außerdem noch ein Philosoph, ein Illustrator und ein Stadtplaner außer Dienst. Dieser sagt irgendwann einen merkwürdigen Satz. Er sei sehr froh, dass er jetzt hier im Wunderland der Eisenbahner mitten in der Speicherstadt arbeiten dürfe. Das sei wie eine Befreiung. Einst war er als Architekt und Städtebauer irgendwie angetreten, die Welt zu retten: „Ging gar nicht!“ Erst hier nun habe er seinen Frieden. Und „retten“ kann er jetzt auch, weil er mit seinem Modellbau den Besuchern viel Freude stifte!

Die ungewöhnliche Baubesprechung gilt einem neuen Land am Fleet: Bella Italia. Im schönen Maßstab 1:87 oder so ähnlich, denn manchmal, so lernt man schnell, muss man ein bisschen tricksen und ein Gebäude kleiner machen (zum Beispiel im Maßstab 1:100), weil sonst etwa ein Schloss Neu-
schwanstein den Rest der Modelleisenbahn optisch erschlagen würde. Jetzt aber ist Italien dran, und weil Rom ja auch nicht an einem Tag erbaut wurde, hat es ein bisschen gedauert, seit 2010 etwa, und die Eröffnung wird dann im Sommer 2016 sein. „Ich kann sagen, daß ich nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei. Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen“, schrieb Goethe über seine Italienische Reise voller Hingabe und Achtung, nun – wäre er demnächst in der römischen Miniaturwelt in der Speicherstadt, gut möglich, dass seine Euphorie heute die gleiche wäre.

Wunderland

In diesem Hamburger Winter gibt es also eine willkommene Chance, „sonnige“ italienische Momente in der Speicherstadt zu genießen, auch wenn Italien noch nicht freigegeben ist. Durch kleine Fenster kann jeder Besucher den Fortgang des Bauprozesses verfolgen. Schön zu sehen, wie ein weiteres Wunderland Stück für Stück, Schicht für Schicht entsteht: wie auf dem Bau mit Baumaterialien (Eisen, viel Holz, Gips) und mit Werkzeugen wie Säge, Hammer und Schrauber, aber auch mit der Klebstoffflasche. Zurzeit sind teilweise noch die Rohbauten Italiens erlebbar: „Das ist hier alles genauso wie auf der richtigen Baustelle“, sagen die Modellbauer. Erst werden statische Grundgerüste als riesige Tischebene auf circa 80 Zentimetern Höhe erstellt, und es beginnt darunter eine Wahnsinnsverdrahtung für Stromführung, Induktionsschleifen und Infrarotsteuerung. Die TGAs (Technische Gebäudeausrüster/Ingenieure) des neuen Berliner Flughafens hätten hier mal üben sollen. Der hauseigene Flughafen Knuffingen funktioniert jedenfalls seit Jahren tadellos, auch wenn nach den Nachrichten der eigenen Tagesschau (seit Anfang November aus dem eigenen Wunderland-Tagesschaustudio) gerade zusätzlich ein Space Shuttle landet!

Was am Haus die Fassade ist, ist bei der Modelleisenbahn die künstliche Topografie. Sie entsteht auf feinen Netzen aus Gips, erhärtet, wird modelliert und korrigiert, da ist der Modellbauer unbestrittener Schöpfer. Wie die Mini-Landschaft aussieht, darf er frei entscheiden. Allein das Gleisbild gibt durch die Radien und Steigungen am Berg einiges vor.

Und dann kommt das Finish. Felsen, Wälder und Wiesen, Straßen und Gleisbetten entstehen. Die Häuser werden teilweise baustellenfern auf eigens gefertigten Modulen in der Werkstatt gebaut. Das hat den Vorteil, dass man von allen Seiten gleichzeitig bauen kann. Später werden dann die Module in die Großanlage gehoben. Schon zu besichtigen sind die Außenwände des Bahnhofes Roma Termini, neben Milano Centrale Italiens größter Bahnhof, der Petersdom und was Italien sonst noch so ausmacht. Wie beschrieb einst der bissige Philosoph Arthur Schopenhauer passgenau: „Der Hauptzug im Nationalcharakter der Italiener ist vollkommene Unverschämtheit. Diese besteht darin, daß man einesteils sich für nichts zu schlecht hält, also anmaßend und frech ist, anderenteils sich für nichts zu gut hält, was niederträchtig ist. Wer hingegen Scham hat, ist für einige Dinge zu blöde, für andere zu stolz. Der Italiener ist weder das eine noch das andere, sondern nach Umständen allenfalls furchtsam oder hochfahrend“.

Wunderland

Bella Italia wird (wie auch der Rest der Wunderlandwelt) samt Schlauchboot, Espressotasse und Strandliege im Maßstab von 1:87 nachgebaut

Die Leute vom Wunderland sind nicht anmaßend, frech oder niederträchtig, aber schon einmal spöttisch und ironisch, wenn die kleinen Menschenfiguren der Modellanlage schließlich Leben einhauchen, und wie ja bekannt ist, das ein oder andere nicht ganz jugendfrei ist. Da wird gefressen, gedrängelt und kopuliert. Alles ist klein, minimal und muss erst einmal gefunden werden. Der Besucher gerät in die Rolle des Entdeckers oder Erklärers: „Haste nicht gesehen, da stehen ja Dinos!“ – wo es Damhirsche hätten sein müssen. In jedem Fall wird alles so eingerichtet, dass das „Bett im Kornfeld“ für Kinder nicht einsehbar ist und im Mindestabstand von einem Meter zum Plattenrand inszeniert wird.
Man müsste Tiefenpsychologe sein, um alle Einfälle interpretieren zu können!

Eines weiß man allerdings: Nach langen Zeiten des Größenwahns ist klein sehr sexy. Mini-Chips machen es ja heute möglich, eine raumgreifende Stereo-TV-Poweranlage in der Westentasche als iPhone oder Mini-iPad mit sich herumzutragen. Das Miniatur Wunderland ist die gebaute 3D-App unserer Welt und das Gegenmodell zur virtuellen Flüchtigkeit. Es ist außerdem immer auch ein Gemeinschaftsereignis und nix für Nerds.

Das bringt uns zur Frage, warum dieses kleine Wunderding auf mehreren Etagen und 1.300 Quadratmetern Fläche so viel Erfolg hat. Der Modellbauer, der Philosophie studiert, sagt: „Erstens der Wiedererkennbarkeitswert, zweitens der Witz an der Sache und drittens der Blick in eine vermeintlich heile Welt“. Das stimmt nicht so ganz. Denn es blitzt, blinkt und rattert in Knuffingen und Co. Im Einsatz in Mini-Hamburg-Mitte habe ich mehr als 25 Feuerwehrautos gezählt. Vielleicht ist das der Ersatz dafür, dass auf den Schienen selbst Zugunglücke aus verständlichen politisch korrekten Gründen nicht stattfinden dürfen. Der Philosoph sagt auch: „Zusammengefasst steht der Besucher über der Sache, und das ist gut so!“ Endlich einmal die Gullivers der Welt sein, die buchstäblich durch diese Miniaturen gefesselt werden. Auf also nach Italien! Spätes-tens im nächsten Sommer ist es auch in Hamburg zu erleben. Das „Making of“ ist ebenfalls spannend und nur noch in diesem Winter zu sehen.

Wunderland
 

Und was sonst noch im Miniatur Wunderland passiert

 

Seit Anfang November verfügt das Wunderland über ein eigenes, etwa tellergroßes Tagesschaustudio. ARD-Mann Jan Hofer hat eine eigene Wunderland-Tagesschau zusammengestellt.

Ebenfalls seit November können Besucher einen Sitz im Miniatur-Olympiastadion nach Berliner Vorbild ersteigern. Das ganze steht unter der Schirmherrschaft von Popstar Helene Fischer und kommt der Stiftung Ein Herz für Kinder zu Gute.

Die größte Herausforderung der nächsten Jahre stellen Frankreich und England dar. Das Miniatur Wunderland wird dazu mit einer Brücke über das rückwärtig gelegene Fleet mit dem gegenüberliegenden Speicherblock verbunden. Die Brücke stellt dann den Ärmelkanal dar. Über diese Erweiterung wird schon seit längerer Zeit mit der HHLA verhandelt; die Verträge stehen kurz vor einem Abschluss.

Text: Dirk Meyhöfer, Fotos: Thomas Hampel
Quartier 32, Dezember 2015–Februar 2016 , Rubrik:    
« Zurück zur Übersicht