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Leben in der HafenCity – Eine Zwischenbilanz

Ein schöne Gegend mit eingebauten Kontrasten: Die Bewohner der wachsenden HafenCity richten sich als urbane Pioniere zwischen Baustelle und Wohntraum, zwischen Lärmüberflutung und Beschaulichkeit ein.


Ich mag die HafenCity besonders im Frühsommer, wenn die Abendsonne die Hafenkulisse samt Bau- und Verladekränen rotgolden einfärbt. Wenn die Elbe mit sanftem Schmatzen gegen die Kaimauern platscht und sich das Glitzern des Wassers auf den Glas- und Alufassaden der Gebäude am Kaiserkai spiegelt. Gegen Abend, wenn sich der omnipräsente Baustaub etwas legt und die Kakophonie von Steinsägen, Betonmischern und schweren Rammen langsam abebbt. Wenn die Touristenschwärme in geordneter Formation ihren Bussen zustreben. Wenn die letzten Laster mit Baugerüsten und Maschinen abrücken und den Kaiserkai und den parallel gelegenen Sandtorkai passierbar machen.

Das ist die beste Zeit für ein kurzes Sonnenbad an den Marco-Polo-Terrassen mit Blick auf das Wasser, das uns alle hierher gelockt hat. Dann entfaltet die HafenCity zuweilen jene entspannte und „chillige“ Atmosphäre, die ich mir vorgestellt hatte für die Zeit, wenn das Zahlenverhältnis Anwohner zu Bauarbeiter nicht mehr eins zu zehn betragen würde. Noch ist die HafenCity ein Versprechen, das größte, das die Hansestadt ihren Bürgern in absehbarer Zeit machen wird. In rund 20 Jahren wird sie die Hamburger Innenstadt um 40 Prozent erweitert haben: 157 Hektar, 1,8 bis 2 Millionen Quadratmeter Bruttogeschossfläche, 5.500 Wohnungen und Büroraum für mehr als 40.000 Menschen.

Pionieren wird viel zugemutet – und sie halten einiges aus

Von „feinkörniger Nutzungsmischung“ aus Wohnen, Büro, Freizeit und Kultur schwärmen die Stadtplaner. Wenige hundert Meter entfernt von Hauptbahnhof und Rathausmarkt entsteht das größte innerstädtische Bauvorhaben Europas. Neuankömmlinge, die das noch nicht verinnerlicht haben, hören es in den Sommermonaten viele Male am Tag. Blechern hallen die Superlative aus den Lautsprechern der Hafenrundfahrtbarkassen in die HafenCity-Wohnzimmer hinauf.

Eingehüllt in goldige Abendsonnenstrahlen klingen solche Verheißungen auch für mich beeindruckend – bis mir einfällt, dass für das Abendessen noch frische Zutaten fehlen. Dann heißt es, bis zum Rödingsmarkt radeln: durch Schlaglöcher und Schlammpfützen, vorbei an Absperrungen und immer neuen Umleitungen. Gut 14 Restaurants kann Hamburgs jüngster Stadtteil inzwischen vorweisen, eine Galerie, eine Zahnarztpraxis, Architekturbüros, Werber, Texter, Makler und sogar zwei Bäckereifilialen. Doch es fehlt Elementares: ein Supermarkt, ein Metzger, eine Reinigung, eine Post, eine Apotheke. Er werde gerne ein kleines Sortiment an frischem Gemüse anbieten, sagt Thomas Jeche, der den ersten und bislang einzigen Feinkostladen in der HafenCity betreibt. Doch erst, schränkt der inzwischen medienerfahrene Händler ein, müsse sich der Baustaub lichten.

Pioniere nennt die HafenCity Hamburg GmbH die ersten 1.000 Neugierigen, die sich für Quadratmeter-Mietpreise von 9,50 Euro bis angeblich 20,00 Euro (und Kaufpreisen bis zu 7.000 Euro pro Quadratmeter) am Elbufer niedergelassen haben. Pioniere halten einiges aus. Sie trotzen Lärm und Widrigkeiten, schlafen auch bei Sommerhitze mit geschlossenem Fenster und lassen sich von einer bisweilen mühsamen Logistik nicht abschrecken. Mit lässiger Verachtung für kleine Alltagsbeschwernisse tolerieren sie die feine Dreckschicht auf dem Autolack und bugsieren gelassen ihre Einkäufe durch den dichten Gerüste-Dschungel.

Namhafte Architekten aus ganz Europa haben durch ihre Entwürfe
ihre Visitenkarte abgegeben.

„Wir waren die ersten,“ sagt der Rentner Jürgen Fischer. Zusammen mit seiner Frau Renate ist er im August 2006 vom 6.000 Einwohner-Städtchen Lauenburg in die HafenCity gezogen. Ihre Wohnung gehört zum weiß-verputzten Komplex der Wohnungsbaugenossenschaft Bergedorf-Bille. Die Mietpreise sind vernünftig, die Aussicht ist toll. „Ich überwache die Marco-Polo-Terrassen,“ scherzt Fischer. Und tatsächlich hat er Ausguck bezogen in einem ledernen Ohrensessel. Die bodentiefen Fenster seiner Loggia geben den Blick frei auf die im Bau befindliche Unilever-Deutschland-Zentrale und das Beton-Skelett des Marco-Polo-Tower, der ab Mitte 2009 exklusive Wohnträume erfüllen soll. Er überblickt auch den Schiffsverkehr auf der Elbe: Autotransporter von steuerbord, Schlepper und Touristenbarkasse von Backbord. Fischer liebt das maritime Ambiente, an den Wänden des Apartments hängen Barometer und Drucke von antiken Seekarten. Manchmal geht er Kaffeetrinken im Kreuzfahrtterminal und genießt die Aufbruchstimmung.

Fotograf Capillaro vor seiner Galerie am Kaiserkai – genau die richtige Adresse für ein aufgeschlossenes, kunstinteressiertes Publikum.

Für den Chef der HafenCity Hamburg GmbH, Jürgen Bruns-Berentelg, sind Mieter wie die Fischers Gold wert. Entschlossen, sich die neue Umgebung zu ihrem Zuhause zu machen, arbeiten sie unablässig an jenen Kontakten, ohne die die HafenCity nicht funktionieren würde. Sie sammeln die Einladungen zu Mieterversammlungen und Hausfeten in Fotoalben und gießen die Blumen ihrer Nachbarn.

„Wir wollen Urbanität herstellen,“ sagt Hamburgs Oberbaudirektor Jörn Walter, aber ein Lebensgefühl lässt sich eben nicht herstellen. Bruns-Berentelg hat den Fischers einen Besuch abgestattet und neben dem Rollstuhlfahrer Fischer den baubedingten Hindernisparcours abgeschritten. Weil der Straßenbelag am Kaiserkai noch fehlt, reichen die Bordsteine streckenweise bis an die Waden. Seit diesem Spaziergang gibt es provisorische Rampen, die auch den Fahrradfahrern das Leben leichter machen.

Die Ausstrahlung der HafenCity hat schon für manche öffentliche Kontroverse gesorgt. Namhafte Architekten aus ganz Europa haben durch ihre Entwürfe ihre Visitenkarte abgegeben. Sie haben Bezüge hergestellt zum Hafen mit seinen Kränen, Terminals und Speichern. Modern sollte es sein und großstädtisch. Wärme ist so nicht entstanden. Durch die Sichtachsen zwischen den meist sechs- bis achtstöckigen Häusern pfeift der Westwind, es gibt noch keinen Busch, keinen Strauch und kaum einen Baum. Nichts dämpft den Schall, das Zuschlagen einer Autotür hallt wie eine Explosion.

„Hier möcht ich net wohne,“ gruselt sich eine hessische Touristengruppe im Kollektiv, während sie ihre Nasen an den HafenCity-Fenstern so platt drücken, dass die Bewohner hinter den Scheiben über das Anbringen von „Bitte nicht füttern“-Schildern nachdenken. Bis zu 70.000 Tagesbesucher sollen dereinst durch die HafenCity schlendern. Im Augenblick braucht es noch Events wie die nationale Wiedervereinigungsfeier oder die „Cruise Days“, um solche Massen anzuziehen. Dirk Kohl dagegen gefällt es hier: „Ich bin kein Typ für Altbauwohnungen“. Aus Poppenbüttel ist er hergezogen, hat sich seine Single-Wohnung mit phantastischem Rundumblick funktional und mit kühlem Chique eingerichtet. Die Nähe zur Innenstadt ist praktisch, der Blick aufs Wasser grandios. „Für Kinder oder eine Familie wäre es wohl nichts,“ glaubt er dennoch. Der Platz fehlt und vor allem das Grün. Kohl schätzt die kühle Sachlichkeit eines neuen modernen Stadtteils. Hier ist definitiv nichts kitschig oder kleinbürgerlich. Hausbewohner begegnen sich mit freundlicher Gelassenheit, oft auch Gleichgültigkeit. Man bleibt für sich, ist selten da und unverbindlich. „Die meisten meiner Nachbarn kenne ich nicht,“ sagt Kohl. Manchmal treffe man sich zufällig im Fahrstuhl: „Ach so,“ heißt es dann, „dann sind wir wohl Nachbarn.“

Die Nähe zur Innenstadt ist praktisch, der Blick aufs Wasser grandios.

Und auch sie gibt es wirklich, die HafenCity-Phantom-Nachbarn, die sich die Wohnung am Wasser als Kapitalanlage oder als Stadtdomizil für die Sommermonate zugelegt haben. Die mit extrem teuren Autos vorfahren und den Eindruck erwecken, in der HafenCity werde mehr Geld ausgegeben als am Neuen Wall. Im November bleiben einige Fenster in der HafenCity dunkel. Soziologen ermitteln in regelmäßigen Abständen das Lebensgefühl der kleinen HafenCity-Community. Sie erfassen die Einwohnerstruktur statistisch. Aus diesen Statistiken geht unter anderem hervor, dass viele rüstige Senioren Gefallen gefunden haben am Leben in unmittelbarer Nähe zum Stadtzentrum, zur künftigen Elbphilharmonie und zu guten Restaurants, wie dem Louis C. Jacob-Ableger „CARLS“ oder dem „Wandrahm“. Die Soziologen sprechen in ihrem Forscher-Slang von „Emptynestern“ und meinen damit finanziell abgesicherte Paare, deren Kinder aus dem Haus sind und die sich nun ein Ruhestandsdomizil mit Elbblick gönnen. Sie stören sich nicht am Lärm. Die Stille ist es ja, der sie entfliehen wollen. Kinder dagegen gibt es noch nicht viele, dabei wurde Ihnen eigens ein Spielplatz gebaut.

Aus dem Wohnzimmer hat Ehepaar Fischer einen Panoramablick über die Marco-Polo-Terrassen und die Baustellen am Strandkai.

„Die HafenCity hat Potenzial,“ schwärmt Christian Urselmann. Zusammen mit seiner Frau hat er am Kaiserkai die erste Arztpraxis der HafenCity eröffnet – eine Zahnarztpraxis, die mit stilisiertem Kaminfeuer und fernöstlichen Motiven an der Wand eher an eine Spa-Einrichtung erinnert. Das soll so sein. Es vermittelt ein angenehmes Gefühl und mindert die Angst. Ihre Patienten rekrutieren die Urselmanns vorwiegend aus der HafenCity. Und es sind angenehme Kunden. „Alle leben hier ganz bewusst. Alle haben Lust darauf, hier zu sein,“ schwärmt er. „Es ist wie in einer Soap,“ findet Nadine Heiser. Die Modedesignerin kreiert eine eigene Linie mit HafenCity-Bezug. Baseballkappen, Sweatshirts, Regenschirme und Kaffeebecher. „Es gibt erst wenige Orte, an denen man sich regelmäßig trifft,“ sagt sie. Deshalb kenne man sich inzwischen. Man begegne sich beinahe täglich, ein kleiner Kreis an Gleichgesinnten, alle mit dem gleichen Lebensgefühl.

„Der Style stimmt,“ bestätigt „Capillaro“. Der junge Mediziner, der sich als Autodidakt mit seinen perspektivisch verfremdeten Großstadt-Motiven inzwischen als Fotograf international einen Namen gemacht hat, findet die Hafen-City passend für seine großformatigen Fotokunstwerke. Seine „Rickmer-Rickmers“ hängt bereits in einem großen Bürogebäude am Sandtorkai. Hier in der HafenCity hofft Capillaro auf Zuspruch von Edel-Globetrottern mit dicker Brieftasche. Gerne wäre er schon länger hier. Aber seine Galerieräume wurden nicht rechtzeitig fertig. Er musste selbst Hand anlegen. Darüber verstrich der Sommer. Auch das ist eine Erfahrung, die er mit vielen HafenCity­-Bewohnern teilt. Die Baumängel sind ein Dauerärgernis. Verantwortlich sind die unzähligen Subunternehmen, die ihrerseits wieder Dienstleister beauftragen. Jeder kennt nur den eigenen Handschlag. Fremdfirmen scheuen das Risiko, bei Anschlussarbeiten in Haftung genommen zu werden. Im Internet-Forum „HafenCity Speakers Corner“ treffen sich leidgeprüfte Mieter zum „Geht es Dir ähnlich wie mir“-Chat. „Ich dachte, ich würde am und nicht im Wasser wohnen,“ witzelt ein Neuankömmling. Ein anderer beklagt Dellen im Türrahmen, Fenster, die nicht schließen, Briefkastenschlüssel, die nicht passen und immer wieder nicht eingehaltene Termine.

Den Fischers ist das alles letztlich egal. „Ich bin glücklich hier,“ sagt Jürgen Fischer. Seine Frau sei kulturell interessiert, man habe die Großstadt vor der Tür und die Elbe vor dem Fenster. Und die Menschen seien etwas besonderes, nicht engstirnig. „Wir haben Freunde hier gefunden,“ sagt Renate Fischer und blättert im Fotoalbum. Da ist eine Karte von den Nachbarn. „Wir sind immer für Sie da,“ steht da. Und es gibt eine neue Einladung zum Nachbarschaftstreffen. „Im Sommer haben wir zusammen gegrillt,“ sagt sie. Und jetzt freue sie sich auf den großen Weihnachtsbaum auf dem Vorplatz. Der wird dann glitzern wie ein hell erleuchtetes Kreuzfahrtschiff.

 

Text: Sabine Rössing, Fotos: Thomas Hampel

Quartier 04, Dezember 2008–Februar 2009 , Rubrik:    
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