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Der Quartiersmann

Von Luke zu Luke – der 67-jährige „Nüssli“, mit bürgerlichem Namen Rolf Janke, vermisst seine Speicherstadt aus der guten alten Zeit

RolfJanke

Quartiersmann durch und durch: Rolf Janke erinnert sich gern
an seine Zeit in der Speicherstadt

Das Fotoalbum mit dem abgegriffenen roten Einband zum 40-jährigen Dienstjubiläum seines Schwiegervaters Christoph Rehder hütet Rolf Janke wie einen Schatz. Und wenn er darin blättert, kommt er ins Schwärmen über „alte Zeiten“, die 60er und 70er Jahre. Schwiegervater und er hatten den gleichen Beruf: Sie waren Quartierslüüd in der Hamburger Speicherstadt.

Rolf Janke und die geerbten, erstaunlich gut erhaltenen Fotos können Geschichten erzählen von Hamburg und der damaligen Arbeitswelt. Harte körperliche Arbeit war täglich angesagt. Aber Janke dünkt sie sich im Rückblick wie das Paradies. Man sieht Fotos vom Sandtorhafen mit Lagerschuppen, wo heute futuristisch designte Wohnquartiere stehen. Im Hintergrund thront Kallmorgens Kaispeicher A, „an dem die großen Schiffe anlegten und Kakao löschten“, wie sich der heute 67-Jährige noch gut erinnern kann.

Janke versuchte es nach der Schule zunächst in einer Spedition, merkte aber schnell, „dass ich kein Büromensch bin“. Also suchte er in der Speicherstadt nach Arbeit und wurde beim Lagereibetrieb G. Voss & Consorten als Lehrling eingestellt. Irgendwie muss ihm die Branche im Blut gelegen haben: Schon sein Großvater war Inspektor eines Stauereibetriebes gewesen. Bei G. Voss & Consorten traf Janke auf Lagermeister Christoph Rehder, der später sein Schwiegervater werden sollte. „Als Dankeschön für meine gute Arbeit im Job hat er mir seine Tochter überlassen“, merkt er noch heute verschmitzt an.

Was war Janke Anfang der 60er Jahre für ein Kerl? Auf jeden Fall noch kein sehr kräftiger, wie ein altes Foto ausweist. „Ich hab’ damals 75 Kilo gewogen“, berichtet der 1,78 Meter große Mann. Das änderte sich aber schnell durch die Arbeit. Heute, als Rentner, wirkt Janke immer noch wie einer, der seine Arme ausbreitet und dabei voller Tatendrang ruft: „Wo steht das Klavier?“ Anpacken, lautete die Devise als Quartiersmann-Geselle, denn die wichtigste Arbeit war das Be- und Entladen, dazu das Wiegen, das fachmännische Einlagern, Trocknen, Bearbeiten, Aus-, Um- und Verpacken von Waren aller Art. „Die Arbeit war eigentlich immer gleich: hart, dreckig, aber schön.“ Und sie war auch nicht immer so, wie man sie sich in der heutigen beinahe klinischen Supermarkt-Welt vorstellt. Bei Jankes Erinnerung an die Wochen nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl 1986 kriegt man noch heute Gänsehaut. „Zehn, 15 Lkw standen Schlange vor unserem Betrieb, alle voll mit belasteten Haselnusskernen von der Schwarzmeerküste. Bis 300 Becquerel durften sie in Schokolade weiterverarbeitet werden. Wir hatten teilweise Partien mit 600 Becquerel, dazwischen aber auch wesentlich weniger belastete Säcke. Wir mussten also Mischungen herstellen, die unter dem Grenzwert lagen. Damit haben wir Wochen zugebracht.“ Wir, das war meistens eine Truppe von bis zu zehn Quartiersleuten und Lagerarbeitern – „einer an der Winde, vier beim Stapeln und zwei Wagenfahrer“, die sich aufeinander verlassen mussten, sonst konnte es böse Folgen haben.

Quartiersmaenner

Täglich harte Arbeit an der Luke (links): ein Mann an der Winde, einer zieht die „Hieve“ (Hebegut) auf den Boden, der Dritte bedient den Wagen, „Taxameter“ genannt. Gewogen (rechts) wurde in der Speicherstadt noch bis in die 60er Jahre mit einfacher, aber robuster Gerätschaft

Die Arbeit als Quartiersmann war auf vielerlei Weise gefährlich, wie sich Janke erinnert: „Wir waren gerade auf dem 5. Boden mit einem Taxameter beschäftigt. So nannten wir die dreirädrigen Wagen, auf denen die Säcke über die Böden transportiert wurden. Von unten kam eine weitere Hieve mit Säcken hoch, der Stropp verhakte sich am Taxameter, der ein wenig aus der offenen Luke herausschaute und zog ihn aus dem Speicher. Die ganze Ladung ging ab nach unten, der Wagen streifte den Lkw-Fahrer und zertrümmerte ihm die Schulter. Der Chef kriegte das mit, kam angerannt und schaute erst mal nach, ob der Taxameter heil geblieben war.“

Zu der Zeit hatte Janke schon längst ausgelernt und mehrfach den Arbeitgeber gewechselt. Groß verändern musste er sich dabei nicht: Sein Lehrbetrieb lag am Sandtorkai 32, Luke 4. Später wechselte er dann im Haus zu den Luken 1, 2 und 3 und bekam schließlich – Sandtorkai 33, Luke 5 – seinen Spitznamen weg: Als Mitarbeiter eines auf Import-Nüsse spezialisierten Betriebs firmierte er in der Speicherstadt nur mehr unter „Nüssli“. So lecker das Produkt, so hart die Schufterei: „So ein Sack Haselnusskerne wog seine 80 Kilo, Aprikosenkern-Säcke sogar 100 Kilo. Und wenn man beim Abfüllen nicht aufpasste, wurden auch schon mal 110 Kilo daraus. Es gab Tage, da habe ich mit Hieven und Tragen gut und gerne 130 Tonnen bewegt.“

Einmal im Juli habe eine ganze Schute voll loser Paranüsse am Speicher festgemacht. „Wir mussten raus und die Nüsse in Bastkörbe abfüllen, diese auf unseren Boden hieven, ausschütten, auf dem Boden verteilen und schließlich wieder abfüllen – alles per Hand. Außerdem gab es noch Ungeziefer in der Ladung, irgendwelche Käfer. Diese Biester wollten uns ständig beißen. Die waren eklig. Dabei hatten wir noch Glück, dass das Fleet bei uns an der Nordseite lag und es im Schatten nicht so heiß war.“ Für die Plackerei gab es aber immer mal wieder einen kleinen Ausgleich. „Manchmal mussten wir Ladungen von weit entfernten Schiffen in Empfang nehmen. Da bin ich mit meinem Schwiegervater oft durch den ganzen Hafen geradelt. Angekommen, wurde erst mal Fofftein gemacht. Es gab ja immer was abzustauben, zum Beispiel verbeulte Konserven mit Fisch oder Ananas. Und zu Weihnachten war man immer gut versorgt: Haselnusskerne, Pistazien, Paranüsse und Mandeln – gemahlen, gestiftelt, gehackt, gehobelt …“

ChristophRehder

Schwiegervater Christoph Rehder bereitet eine „Hieve“ vor. Janke dazu: „Mit Hieven und Tragen habe ich schon mal um die 130 Tonnen am Tag bewegt“


Quartiersleute

Quartiersmannschaft macht Fofftein (links), Arbeiter beim Abfüllen (Mitte) und Lagermeister Rehder beim Prüfen der Ware (rechts). Die Arbeit war nicht immer ungefährlich, der Zusammenhalt der Quartiersleute untereinander wichtig

Auch an die bislang höchste Sturmflut, die Hamburg je erreicht hat, erinnert sich Janke eher aus kulinarischer Sicht: „Es war im Januar 1976. Bei uns in der Speicherstadt stand ein ganzer Keller voll frischer Hühnereier – der war natürlich vollgelaufen. Alles sollte in Abfallcontainer geworfen werden. Aber ich hatte gesehen, dass das Wasser nicht bis zur Decke reichte und daher die obersten Lagen gar nicht im Wasser gewesen waren. Also fragte ich beim Zoll nach, ob ich die Eier mitnehmen dürfte, und die Beamten gaben grünes Licht.“ Das ließ sich Janke nicht zweimal sagen. „Um die 1.000 Eier hab’ ich für Familie und Freunde ergattert.“ Aber die Sturmflut machte auch zusätzliche Arbeit. „Mehrere Partien Haselnusskerne hatten Wasser abbekommen. Die mussten wir zu zweit trocknen. Die Säcke wurden auf den 5. Boden gehievt, aufgeschnitten, die Haselnusskerne dann in eine große Trocknungsanlage geschüttet, anschließend auf dem 3. Boden wieder in die – ebenfalls getrockneten Säcke – gefüllt und schließlich auf Lkw verladen. Mit dieser Aktion waren wir monatelang beschäftigt.“ Einmal hätte die Trocknungsanlage beinahe einen Großbrand in der Speicherstadt ausgelöst: „Das war mein Kollege Heiner. Der trocknet also Haselnusskerne auf dem 5. Boden, packt die nassen Säcke auf so eine Heizspirale. Und weil ihm langweilig wurde, besucht er mich auf dem 3. Boden. Ich renne hoch, und oben angekommen, ist schon der ganze Boden verqualmt. Ich reiße die Säcke von der Heizspirale, werfe sie aus der offenen Luke raus, da lodern schon die Flammen auf. Der Qualm war so stark, dass sofort die Feuerwehr und die Wasserschutzpolizei anrauschten. Aber es ist nichts weiter passiert.“ Einmal allerdings stand Jankes Quartiersmann-Karriere auf Messers Schneide: „Ich gehe durch einen Schuppen. Plötzlich rauscht eine ganze Palette mit 16 Säcken à 80 Kilo auf mich drauf, begräbt mich förmlich. Mit letzter Kraft kann ich einen Sack zur Seite schieben, sonst wäre ich womöglich darunter erstickt.“ Das kommt davon, wenn nachlässig gestapelt wird oder ein Sack plötzlich platzt.

Als der Schwiegervater 1982 in Rente ging, wurde Rolf Janke sein Nachfolger als Lagermeister. Finanziell gesehen hatte Janke nun die höchste Sprosse in diesem Gewerbe erklommen. Dem vierfachen Vater ging es gut. „Ich war Lohngruppe 8, die höchste im Hafen“, berichtet er. Mit dem Kauf eines Reihenhauses erfüllte sich die Familie einen Lebenstraum. Doch bald sollte das böse Erwachen folgen. Im Jahr 1990, der Trend zum Containertransport auf den Weltmeeren war nicht mehr zu stoppen und ließ Anlagen wie die Speicherstadt nach und nach veröden, kam für Rolf Janke das abrupte Ende seines Arbeitsparadieses: „Ein Großkunde sprang ab, und meine Firma war pleite. Ich wurde von einem Tag zum anderen arbeitslos – mit 42! Lange Jahre war es so, dass man in so einem Fall vom Gesamthafenbetrieb aufgefangen wurde. Aber diese Regelung hatte man kurz zuvor geändert.“

Janke verkaufte die frisch erstandene Immobilie, ernährte die Familie als Kurierfahrer. Seit zwei Jahren nun bezieht er Rente. Mit Wehmut erinnert er sich an das „alte“ Hamburg mit seiner Speicherstadt und bleibt Quartiersmann vom Scheitel bis zur Sohle: „Wenn mir heute jemand einen solchen Job anbieten würde, ich würde sofort zugreifen.“

 

Text: Michael Hertel, Fotos: Jonas Wölk
Historische Abbildungen aus dem Jubiläumsalbum Rolf Janke
Quartier 29, März–Mai 2015 , Rubrik:    
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